Zur Definition des Antisemitismus

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Zur Definition des Antisemitismus

In der deutschen Öffentlichkeit wird der Begriff Antisemitismus zur moralischen Rechtfertigung politischer Interessen und nicht zur Analyse der Welt gebraucht. So gut wie nichts, was aktuell mit dem Vorwurf des Antisemitismus belegt wird, ist tatsächlich antisemitisch. Selbstverständlich sind wir als Kommunisten gegen jeden Antisemitismus und müssen ihn erkennen und kritisieren können. Um etwas wirklich kritisieren zu können, muss man es verstehen. Dabei helfen die bürgerlichen Definitionen des Antisemitismus wenig. Sie können aber als Ausgangspunkt unserer Begriffsbestimmung dienen. Deshalb wenden wir uns zuerst der zurzeit viel diskutierten Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus zu, die zumindest den Anspruch hat zwischen Antisemitismus und Antizionis­mus zu unterscheiden.

1. Es ist rassistisch, zu essentialisieren (eine Charaktereigenschaft als angeboren zu behandeln) […]. Was für Rassismus im Allgemeinen gilt, gilt im Besonderen auch für Antisemitismus.1

Dieses erste Zitat gibt eine richtige Definition dessen, was ein rassistisches Urteil auszeichnet, allerdings ohne den Fehler dieser Art des Denkens zu erklären. Rassistische Urteile sind essentialistische, bzw. metaphysische Urteile über Menschen. Ein bestimmtes Verhalten wird als Ausdruck ei­ner in den Menschen wirkenden Kraft gefasst bzw. dem Menschen wird ein natürliches Wesen unterstellt, das ein bestimmtes Verhalten hervorbringt. Das Verhalten soll dann die in den Menschen wohnende Kraft, es selbst hervorzubringen, belegen. Der Inhalt des Verhaltens tritt sich dabei selbst als Kraft gegenüber und soll sein eigener Grund sein. Diese Erklärungsweise erklärt nichts, weil sie sich im Kreis dreht. Sie ist tautologisch. Das Zitat stellt richtigerweise fest, dass die allgemeine Bestimmung des Rassismus als metaphysisches Denken auf den Antisemitismus zutrifft. Antisemitismus ist eine besondere Form des Rassismus.

2. Das Spezifikum des klassischen Antisemitismus ist die Vorstellung, Jüd:innen seien mit den Mächten des Bösen verbunden. Dies steht im Zentrum vieler antijüdischer Fantasien, wie etwa der Vorstellung einer jüdischen Verschwörung, in der „die Juden“ eine geheime Macht besäßen, die sie nutzen, um ihre eigene kollektive Agenda auf Kosten anderer Menschen durchzusetzen. Diese Verknüpfung zwischen Jüd:innen und dem Bö­sen setzt sich bis heute fort: in der Fantasie, dass „die Juden“ Regierungen mit einer „verborgenen Hand“ kontrollieren, dass sie die Banken besitzen, die Medien kontrollieren, als „Staat im Staat“ agieren und für die Verbreitung von Krankheiten (wie etwa Covid-19) verantwortlich sind. All diese Merkmale können für unterschiedliche (und so­gar gegensätzliche) politische Ziele instrumentalisiert werden.2

Das zweite Zitat aus der Jerusalemer Erklärung fasst knapp zusammen, was den konkreten Inhalt der rassistischen Ideologie des Antisemitismus im Wesentlichen auszeichnet. Im Zentrum antisemiti­schen Denkens steht die Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung. Das unterscheidet den An­tisemitismus von anderen rassistischen Ideologien. Der Mangel beider Zitate ist, dass sie lediglich beschreiben, was Antisemitismus ist, aber das metaphysische Urteil, dass Juden „eine geheime Macht besäßen, die sie nutzen, um ihre eigene kollektive Agenda auf Kosten anderer Menschen durchzusetzen“, nicht erklären. Die Jerusalemer Erklärung erklärt nicht wie das antisemitische Denken funktioniert, also warum Leute zu diesem rassistischen Urteil über Juden kommen. Um das zu tun, schauen wir uns folgendes Zitat an: „Die Juden sind unser Unglück.“3

Dieser Satz des Historikers Heinrich von Treitschke, der später zur Parole des nationalsozialistischen Blattes Der Stürmer wurde, macht deutlich, dass es im Denken von Antisemiten „Die Ju­den“ als Kollektiv gibt, im Gegensatz zu einem „Uns“, dem eigenen Kollektiv. Die Juden werden als das „Andere“ definiert, das dem eigenen Kollektiv gegenüberstehe und Schuld an allem Schlechten sei, was ihm widerfährt. Um zu verstehen, wie dieser Schluss gezogen wird, muss man sich das Kollektiv, von dem Treitschke ausgeht, und die Vorstellung, die er davon hat, genauer an­schauen.

Wenn Treitschke von „Uns“ spricht, meint er das nationale Kollektiv Deutschlands, also die Gemeinschaft aller Mitglieder der deutschen Nation, bzw. die Gemeinschaft derer, die er zur deutschen Nation zählt. Er ist Nationalist. Nationalisten meinen, das nationale Kollektiv sei eine harmonische und organische Gemeinschaft. Jedes Mitglied dieser Gemeinschaft käme zu seinem Recht, wenn alle Mitglieder ihre Pflicht leisteten. Jedes Mitglied habe seinen Platz und trüge dadurch zum Gelin­gen des großen Ganzen, dem Erfolg der Nation, bei. Nationalisten, die eine biologistische Metaphy­sik vertreten, denken, dass es das natürliche Wesen der Mitglieder des nationalen Kollektivs sei, ihre Pflicht auch leisten zu wollen und so zur Harmonie und zum Erfolg der Nation beizutragen. So meinten z.B. die Nationalsozialisten, „die Deutschen“ seien eine „Volksgemeinschaft“ mit einem gemeinsamen Zweck, dem Erfolg Deutschlands, und jeder Deutsche wolle von Natur aus diesen Zweck erfüllen, weil er ja Teil der deutschen „Rasse“ sei. Diese Vorstellung vom nationalen Kollek­tiv ist eine ideologische Verklärung.

Tatsächlich ist das nationale Kollektiv keine harmonische Gemeinschaft, sondern eine kapitalistische Klassengesellschaft, die von Konkurrenz und Klassenkampf geprägt ist. Die bürgerliche Vor­stellung einer harmonischen Eigentlichkeit der nationalen Klassengesellschaft ist eine idealistische Auffassung von ihr. Der wahre Kern dieser idealistischen Auffassung ist die tatsächliche Abhängig­keit aller Mitglieder von der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der gelingenden Kapitalakkumu­lation innerhalb der Nation. Ja, alle brauchen die Kooperation im Rahmen der gesellschaftlichen Ar­beitsteilung und die Versorgung mit Gebrauchswerten, die produziert werden– aber beides ist nicht Zweck der Interessenverfolgung der Privateigentümer und wird durch Konkurrenz vermittelt. Ja, Bourgeoisie und Proletariat brauchen einander für ihr systemimmanentes Interesse an Profit und Lohn – aber das Verhältnis zwischen ihnen ist eines von Unterdrückung und Ausbeutung, weshalb es fortwährend Klassenkampf gibt. Nationalisten konzentrieren metaphysisch auf die Seite der Iden­tität innerhalb dieser Widersprüche und relativieren oder ignorieren die andere Seite des Wider­spruchs, den Gegensatz bzw. Kampf in ihm.

In Wirklichkeit wird das nationalistische Ideal der kapitalistischen Klassengesellschaft deshalb immer wieder enttäuscht, was die Suche nach Schuldigen, die der Nation schaden, notwendig macht. Weil die biolgistisch-metaphysischen Nationalisten davon ausgehen, dass es das natürliche Wesen der Mitglieder des nationalen Kollektivs sei, die Harmonie und den Erfolg der Nation zu wollen, können diese Schuldigen kein Teil der Nation sein bzw. werden aus ihr heraus definiert. Es muss sich allerdings um einen inneren Feind handeln, der sein schädliches Werk im Verborgenen verübt und die Nation zersetzt. Auf der Suche nach Schuldigen knüpfen diese Nationalisten deshalb an tra­ditionelle (christlich-religiöse) antijüdische Urteile aus dem Mittelalter und der Neuzeit an4 und schaffen ein modernes Bild des „Juden“, der an allem Schlechten, was der Nation widerfährt, schuld sei. Die Juden sind in der Vorstellung dann ein „Volk im Volke, ein Staat im Staate“5. Sie sollen hin­ter dem Finanzkapital, dem Kommunismus, den liberalen Intellektuellen, der sexuellen Perversion, Kriegen, politischen Skandalen, und allen möglichen realen und fiktiven Phänomenen stecken. Dass diese teilweise völlig gegensätzlich sind, ist den Nationalisten egal. Ihre Gemeinsamkeit ist, dass sie der Nation schaden. Das genügt ihnen.

Im „fertigen“ Antisemitismus kulminiert diese verkehrte Vorstellung der Ursachen gesellschaftlicher Gegensätze in einer voll umfassenden Erklärung der modernen, bürgerlichen Wirklichkeit durch eine jüdische Weltverschwörung. Der „Jude“ sei arbeitsscheu, aber geschäftstüchtig, hinterlis­tig und raffiniert, strebe danach, die Weltherrschaft an sich zu reißen, und ziehe schon insgeheim überall die Fäden im Hintergrund. Er stecke hinter dem Marxismus und der Arbeiterbewegung, die er nutze, um das Volk zu spalten und die Nation zu zersetzen. Er stecke hinter dem bösen „raffen­den“ Kapital, das das gute „schaffende“ Kapital durch Zinsknechtschaft unterjoche. Im Gegensatz zu gewöhnlichen rassistischen Theorien will der Antisemitismus nicht eine reales Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnis aus der Perspektive der Herrschenden rechtfertigen, sondern soll alle Wi­dersprüche der bürgerlichen Gesellschaft kaschieren, damit man sich mit ihr zufriedengeben kann. So wird er dann zum Werkzeug der Bourgeoisie und zur nationalistischen Mobilisierung der Mas­sen in ihrem Interesse genutzt. Genauso wie bei der eigenen Gemeinschaft wird auch der „Jude“ als ihr „Anderes“ metaphysisch aus seinem natürlichen Wesen erklärt. Die Juden werden dabei zwar als moralisch minderwertig, aber übermächtig imaginiert. Deshalb könnten sie nicht beherrscht, son­dern nur vernichtet werden. Auschwitz war die konsequente Praxis zu dieser Ideologie.

Es gibt allerdings nicht nur den europäischen, nationalistischen Antisemitismus, sondern auch einen islamisierten Antisemitismus, dessen prominenter Vertreter Sayyid Qutb war. In dieser Form des Antisemitismus existiert auch ein metaphysisches Konzept einer Menschennatur. Es ersetzt allerdings die Pseudo-Biologie der Nationalisten mit islamischer Theologie und die Vorstellung der har­monischen Eigentlichkeit der Nation mit der Vorstellung einer harmonischen Eigentlichkeit der „Umma“, der Gemeinschaft aller rechtgläubigen Muslime. Im Wesen ist es das Gleiche. Im islamisierten Antisemitismus wird die metaphysische und idealistische Vorstellung der bürgerlichen Ge­sellschaft der europäischen Antisemiten übernommen, und in falscher Folgerichtigkeit auch die Fi­gur des „Juden“, um den Widerspruch dieser metaphysischen Vorstellung von der Wirklichkeit und ihrer realen Erfahrung gangbar zu machen. Alle Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die nicht zur metaphysischen Vorstellung von ihr passen, können so durch den Einfluss der jüdischen Weltverschwörung gegen den Islam erklärt werden.

Nicht jeder Nationalist wird zwangsläufig Antisemit. Die idealistische und metaphysische Vorstellung von der Nation (oder Umma) als harmonischer und organischer Gemeinschaft ist aber der Aus­gangspunkt der falschen Folgerichtigkeit dieses Denkens. Nicht jeder Antisemit hat die vollständige Ableitung dieser falschen Folgerichtigkeit bewusst im Kopf. Manche teilen nicht jedes metaphysi­sche Urteil über Juden oder legen unterschiedliche Schwerpunkte, was ihre vermeintliche Einfluss­nahme am Weltgeschehen betrifft. Daraus folgen dann auch unterschiedliche Vorstellungen, wie die „Judenfrage“ zu lösen sei. Das Denken von Individuen besteht immer aus Versatzstücken unter­schiedlicher Ideologien und widersprüchlichen Standpunkten. Das muss man ernst nehmen, um sie konkret kritisieren zu können, wenn man ihnen begegnet.

Heutzutage tritt Antisemitismus oft in kodierter Form auf. Statt „Juden“ wird dann von „Rockefel­ler“, „Bilderberger“, der „Ostküste“ oder dem „internationalen Finanzkapital“ gesprochen. Außer­dem sind Verschwörungstheorien über eine angebliche „Plandemie“, mit dem Ziel, die Weltbevöl­kerung zu dezimieren und kontrollieren, oder die Qanon-Erzählung, als Neuauflage des antijudaisti­schen Ritualmord-Mythos, Formen mehr oder weniger versteckten Antisemitismus. Ge­rade weil der Antisemitismus im Westen zwar moralisch geächtet, aber nicht kritisiert wird, nimmt er oft diese Form an. So können Leute ihre antisemitische Propaganda verbreiten, ohne sofort diffa­miert zu werden. Nicht jeder Anhänger dieser Verschwörungstheorien ist unbedingt Antisemit, aber die Ideo­logen, die sie propagieren, wissen, was sie damit sagen und ein großer Teil ihres Publikums versteht es auch so.

Nicht jede Kritik am Finanzkapital ist antisemitisch. Das spekulative Bankkapital ist einer der ekelhaftesten Ausdrücke der kapitalistischen Produktionsweise und muss scharf kritisiert werden. Aller­dings vollziehen wir keine moralische Trennung zwischen „bösem“ Bankkapital und „gutem“ In­dustriekapital, sondern erklären ihre gegenseitige Abhängigkeit und Verschmelzung zum Finanzkapital. Beides Seiten sind notwendige Momente des Ganzen. Das antideutsche Gerede vom „struk­turellen Antisemitismus“ will Theorien als antisemitisch verurteilen, die formal Ähnlichkeiten mit dem Antisemitismus haben. Sie ersaufen alles in der Abstraktion, dass unsere Kritik am Kapitalismus auch auf Personen abzielt und nicht bloß auf das abstrakt waltende Prinzip der maßlosen Ver­wertung von Wert. Sie vernachlässigen dabei, dass die Kapitalisten bewusste Träger dieses Prinzips sind und ihren eigenen Vorteil darin haben. Natürlich verachten wir die Bonzen für das, was sie tun. Sie haben unseren Hass verdient.

Es gibt antisemitische Kritik an Israel. Wenn Leute z.B. behaupten, Israel würde die US-Außenpolitik bestimmen, die „Ostküste“ kontrollieren, oder den Islam zerstören wollen, dann sind das Varian­ten der antisemitischen Weltverschwörungstheorie. Israel ist eine Halbkolonie des Westens und wird in der Hauptsache von den imperialistischen Staaten kontrolliert, weil es von ihnen in seiner Exis­tenz abhängig ist, nicht andersrum. Antisemiten, die so etwas behaupten, machen die verkehrte Gleichsetzung von Zionismus und Judentum mit, die der israelische Staat behauptet. Die richtige Kritik an Israel ist, dass es eine Ordnungsmacht der Imperialisten in Westasien ist, die nicht den Zweck hat, jüdisches Leben zu schützen, sondern jüdisches Leben für diesen Zweck benutzt, im Dienst an der israelischen Kompradorenbourgeoisie. Deshalb ist Israel auch kein Schutzraum für Juden, sondern bringt Juden im laufenden Band in ein antagonistisches Verhältnis zu den umliegen­den, hauptsächlich muslimischen Völkern. Das ist keine praktische Bekämpfung des Antisemitis­mus, sondern bringt die Grundlage für neuen hervor. Der Antisemitismus hört erst auf zu existieren, wenn die bürgerliche Gesellschaft mit ihren Widersprüchen aufhört zu existieren. Deshalb sollte der Kampf gegen Antisemitismus konsequenterweise zu der Forderung nach der proletarischen Weltre­volution und dem Kommunismus führen, statt zum Zionismus.

 

1 https://jerusalemdeclaration.org/wp-content/uploads/2021/03/JDA-deutsch-final.ok_.pdf

2 ebd.

3 Heinrich von Treitschke: Unsere Aussichten, 1879.

4 Dazu zählen u.a. das christliche Feindbild vom Juden als „Gottesmörder“ und „Antichrist“, die Anklagen für angebliche Ritualmordverbrechen an christlichen Kindern und der Vorwurf der Brunnenvergiftung im Zuge der Pestepidemien. Aufgrund dieses religiösen Antijudaismus wurden Juden im christlichen Abendland juristisch schlechter gestellt. Ihnen waren Grundbesitz und die Bewirtschaftung von Ackerland untersagt und sie wurden von den Zünften ausgeschlossen. Christen hingegen war es bis ins 15. Jhd. verboten, Geld gegen Zinsen zu verleihen. Deshalb verdienten viele Juden ihr Einkommen im Mittelalter als Händler, Pfandleiher und im entstehenden Kreditwesen.

5 Adolph Stoecker: Das moderne Judenthum in Deutschland (Erste Rede), 1880.