Der ehemalige Vorsitzende des US-Imperialismus, der diesen acht Jahre lang und durch harte Zeiten führte (Finanzkrise, diverse Kriege etc.), hat nach seinem Abschied aus der Schaltzentrale der Weltmacht einen zweiten Karriereweg eingeschlagen. Er ist politischer Aktivist geworden und verdient als solcher einen Teil seines Vermögens nun mit lukrativen Buch-, Podcast oder Netflix-Deals. So kann er seine „gesellschaftskritische“ Sicht des Zeitgeschehens unter die Massen bringen und gleichzeitig gut daran verdienen. Sein letzter Beitrag zum ideologischen Klassenkampf von oben ist die Netflix-Miniserie „Working: What We do All Day“, die in vier Teilen einen Querschnitt durch die Klassen der amerikanischen Gesellschaft anhand ausgewählter Repräsentanten unterschiedlicher Berufe dreier Wirtschaftszweige (Pflege, Tech, Hotelgewerbe), darstellen soll. Obama weiß wie schwer es ist, sich in der heutigen Zeit zurechtzufinden und übernimmt deshalb dankenswerterweise die Aufgabe uns die Welt zu erklären.
Beginnend bei den untersten Schichten des Proletariats, den „low-wage service workers“, über besser-verdienende Arbeiter und Kleinbürger, bis hin zu den „Bossen“, also der anderen Seite des Produktionsverhältnisses, begleitet Obama diese in ihrem Alltag, der unterschiedliche Härten mit sich bringt. Die porträtierten Angehörigen der unterschiedlichen Klassen entstammen denselben Unternehmen. So lernt man in der ersten Folge die mexikanische Immigrantin Elba kennen, die seit über 20 Jahren als Zimmermädchen in dem New Yorker Pierre-Hotel jeden Tag dieselben Zimmer putzt und in der letzten Folge den sympathischen Vorsitzenden des größten finanzkapitalistischen Monopols Indiens, der Tata Group, der dieses Hotel gehört. Die ganze Reise durch die Höhen und Tiefen der Klassengesellschaft wird einfühlsam und charmant von Obama erzählt, der entweder aus dem Off alles in den richtigen Kontext rückt, oder selbst auftritt und dabei nahbar ist wie eh und je.
Die perfide Funktionsweise dieser Art bürgerlicher Propaganda besteht nicht im Leugnen der Brutalität der Verhältnisse, sondern in der subtilen Verschleierung ihrer Zusammenhänge. Obama streicht sogar einiges an Härten der modernen amerikanischen Gesellschaft heraus und gibt sich ganz kapitalismuskritisch, wenn er über die historische Entwicklung referiert und die „Benachteiligung“ der schwarzen Bevölkerung der USA, insbesondere ihres weiblichen Teils, oder den Abstieg der „middle class“ hervorhebt. Der Klassengegensatz wird lebhaft, bisweilen schonungslos bebildert und teilweise sogar explizit benannt, wenn Obama beispielsweise auf den Profitzweck der Produktion hinweist. Schönfärberei will sich hier niemand vorwerfen lassen, was der geschickte Versuch ist, sich unangreifbar zu machen. Aber die Prinzipien der Verhältnisse werden eben anerkannt als unveränderliche Tatsachen. Alle daraus resultierenden notwendigen Konsequenzen kommen nur als „Missstände“ vor, denen man mit etwas Regulierung hier, etwas Reformen dort und natürlich einer sozial-verantwortlichen Einstellung beikommen müsse. Vielleicht sogar mit ein bisschen gewerkschaftlicher Organisierung, natürlich in ihrer sozialpartnerschaftlichen-korporativistischen Variante. Da ist Obama ganz Sozialdemokrat.
Besonders augenscheinlich wird die Verklärung der Verhältnisse anhand der Auswahl der Vertreter der „Bosse“ (in der deutschen Übersetzung die „Führungskräfte“). Da haben wir erstens den bereits erwähnten Vertreter des indischen Finanzkapitals Chandra, der zwar reich und mächtig, aber ebenso sympathisch und sich seiner sozialen Verantwortung bewusst ist und für alle dieselben Chancen fordert.
Als Nächsten haben wir den CEO eines Tech-Start-Ups, der durch Innovation den Verkehrssektor revolutionieren möchte und autonom-fahrende Trucks entwickelt. Natürlich auch im Dienst an der Gesellschaft und am Fortschritt, der Sicherheit im Straßenverkehr und mit dem kritisch-nachdenklichen Problembewusstsein, dass die damit herbeigeführte Rationalisierung des Transportwesens einen Haufen Trucker überflüssig machen wird.
Als Letzte haben wir die schwarze Chefin eines regionalen Altenpflege-Unternehmens, die sich aus den ärmsten Verhältnissen nach oben gearbeitet hat und jetzt auf einen Teil ihres Einkommens verzichtet, damit ihre Angestellten von ihrem Lohn leben können. Das nette Bild, das sie als fürsorgliche Chefin von sich vermittelt, widerspricht ein bisschen den Erfahrungen, die wir in der ersten Folge von einer ihrer Angestellten geteilt bekommen haben. Sie hat den Job aufgrund der beschissenen Schichtplanung und der daraus resultierenden Unvereinbarkeit mit ihrer Rolle als alleinerziehenden Mutter geschmissen.
Aber das Entscheidende bei den Kapitalisten ist ja eben nicht ihre charakterliche Beschaffenheit, sondern die „Sachzwänge“, die sie als Agenten des Kapitals zu vollstrecken haben. Darüber sollte man sich nicht hinwegtäuschen lassen bei der (Selbst-)Darstellung der „Bosse“. Hier werden uns Vorzeige-Kapitalisten präsentiert und behauptet, dass wenn alle so wären wie sie es in der Welt deutlich „gerechter“ zugehen würde. Wenn sie von ihrer „Verantwortung“ für die Bildung, den Fortschritt, die Belegschaft oder die Umwelt schwafeln, dann allerdings nur, weil diese Mittel für ihren Zweck Profit zu machen eben auch einer gewissen Pflege bedürfen, um dafür ausreichend, dauerhaft und langfristig dafür zu taugen.
Ein weiterer wiederkehrender Aspekt bürgerlicher Propaganda ist die mal explizitere, mal implizitere Huldigung der Glücksschmied-Ideologie. Wenn man sich nur hart genug anstrenge, könne man es auch die „Leiter“ hoch schaffen, wird dem Zuschauer zumindest versichert. Die vorgestellten „Bosse“ sollen dafür als lebendiger Beweis dienen. Obama weiß natürlich, dass dies zumindest eine Herausforderung ist und fordert deshalb bessere Startbedingungen für alle. Natürlich muss für den American Dream des „Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär“-Schicksals deshalb auch die Chancengleichheit gewährleistet sein. Jeder soll zumindest theoretisch die Gelegenheit bekommen, Ausbeuter werden zu können, ganz unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Klassenhintergrund. Obama tritt also ein für die Verwirklichung des bürgerlichen Ideals der freien Konkurrenzgesellschaft, in der lediglich die Fähigkeiten des Einzelnen darüber entscheiden sollen, welchen Platz jemand im Produktionsprozess einnimmt.
Das Ganze ist und geht selbstverständlich einher mit einer Rechtfertigung der prinzipiellen Verfasstheit dieses Systems. Es sei völlig natürlich, dass manche Leute unten und andere Leute oben auf der Leiter stünden, erklärt Obama einem, das ist nun mal die Realität im Kapitalismus. Außerdem war es früher ja auch mal schlimmer, bis zum New Deal (und dem Aufstieg der Nation zur Welthegemonie). Seit den späten 70er Jahren geht es leider wieder Berg ab, Neoliberalismus und so. „Die Gesellschaft“ könne aber entscheiden, wie das Leben der arbeitenden Bevölkerung „aussieht“. Indem „Wir“ jedem die nötige Anerkennung, den Respekt und die Ehrerweisung geben (und einen Lohn, der zum Leben reicht, darauf besteht er), damit jeder in „Würde“ leben kann. Wen genau er mit diesem „Wir“ meint, benennt Obama bewusst nicht, es sollen sich ja alle als Mitsprache-berechtigter Teil eines Gemeinschaftswerks namens Demokratie fühlen. Es wird im Verlaufe seiner Ausführungen allerdings deutlich, an wen er sich konkret richtet.
Im Gespräch mit Chandra, dem bodenständig gebliebenen indischen Finanzkapitalisten aus „ländlichen Verhältnissen“, in der schicken Tata-Suite des Pierre-Hotels, fragt dieser ihn: „Do you worry about the polarization everywhere, for democracy?“ Obama antwortet aufschlussreich: „Yes. It’s my biggest worry. It’s my worry in India, in the United States, in Europe. So much of it has to do with people feeling disconnected from the certainties of an old life and not seeing a path to a firm ground in the future. And one of the ways we rebuild a sense of community that makes democracy work is if people feel they have the dignity of purpose. I worry if we have more and more young people who don’t feel that, they’ll find some place else to get that. So we’ve got some work to do both in strengthening democratic institutions, but I also think the economic and cultural and social ecosystem have to be strengthened. Yeah.“
Einerseits appelliert er implizit an die Rücksicht der Bourgeoisie, ihr variables Kapital nicht zugrunde zu richten, in dem Eigeninteresse, dass dieses auf Dauer dazu taugen muss, ausgebeutet zu werden. Andererseits fordert er von den politischen Verantwortungsträgern, die sozialstaatlichen Institutionen und die Demokratie zu stärken, damit der Konsens zur Herrschaft nicht verloren geht. In dieser Frage ist er ganz der ideelle Gesamtkapitalist, der er mal war, den die Sorge nach dem sozialen Frieden in der Heimat und in der restlichen Welt, umtreibt. Schließlich sieht er in der Verschärfung der gesellschaftlichen Widersprüche eine Bedrohung der Weltordnung und damit der Position des US-Imperialismus als hegemoniale Supermacht.
„Working: What We do All Day“ ist also gleichzeitig ein aufschlussreicher Einblick in den Verfall des US-Imperialismus, in dem, wie Obama freimütig zugibt, die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung in „low-wage service jobs“ ihr Dasein fristet, und anderseits ein Glanzstück bürgerlicher Propaganda, dass einiges aussagt über den Blick (eines Teils) der herrschenden Klasse auf die Verhältnisse und die Lösungsvorschläge, die sie für ihre Probleme haben.
Der Zynismus, dass sich hier jemand, der fast ein Jahrzehnt lang die Lebensbedingungen des amerikanischen Volks diktiert und ihre Verelendung im Interesse des US-amerikanischen Finanzkapitals mit herbei regiert hat, der zudem noch Teil dieser Bourgeoisie ist und davon selbst profitiert, sich hinstellt und der Arbeiterklasse jetzt gut zuredet, gibt der ganzen Sache natürlich noch einen besonders ekelhaften Beigeschmack. Dass dieser Mann sich nun allerdings vor den Folgen dieser Politik für den Machterhalt der Bourgeoisie fürchtet, darüber können wir uns freuen.