Der imperialistische Krieg Russlands gegen die Ukraine im Kontext der Weltlage

Dieser Artikel stellt zusammenfassend unsere Analyse zum Krieg in der Ukraine zum jetzigen Zeitpunkt dar. Viele Sachverhalte werden nur genannt und einige Begriffe vorausgesetzt, aber der Artikel soll auch eine Einladung sein, mit uns über dieses wichtige Thema zu streiten. Insofern ist er unser Beitrag zur ideologischen Auseinandersetzung innerhalb der revolutionären Bewegung. Hier ist der Text als PDF

1. Der Grund und der Charakter des Krieges

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist ein imperialistischer Krieg. Der russische Imperialismus besteht hauptsächlich in seiner militärischen Potenz. Diese hat ihre ökonomischen Grundlage, eine eigenständigen Rohstoff- und Rüstungsindustrie samt begrenztem Kapitalexport. Hinzu kommen das militärische „Erbe“ der Sowjetunion und die Größe und Lage seines Territoriums. Seine Stellung als imperialistische Weltmacht hat sich der russische Imperialismus seit der Krise, die vom Zusammenbruch der sozialimperialistischen Sowjetunion und ihrem ökonomischen Bankrott ausgelöst wurde, entgegen den Interessen der USA und ihrer Weltordnung errungen. Russland ist zurzeit noch der größte militärische Konkurrent des US-Imperialismus und in der Lage, unabhängig von den USA, das heißt gegen die Interessen der USA Krieg zu führen und so seine Interessen auf der Welt durchzusetzen. Der russische Imperialismus befindet sich in einer strategischen Defensive, die vor allem in der militärischen Einkreisung durch die NATO, aber auch in der ökonomischen Konkurrenz durch die EU und die USA in den Ländern des früheren Ostblocks besteht. Innerhalb dieser Defensive ist der Krieg gegen die Ukraine eine taktische Offensive des russischen Imperialismus.

Die für Russland bedrohlichste Einkreisungsmaßnahme durch die USA und ihre westlichen Verbündeten war der Putsch in der Ukraine im Jahr 20141. Nachdem die Janukowytsch-Regierung sich erdreistete, das EU-Assoziierungsabkommen abzulehnen, weil es den Interessen eines Teiles der ukrainischen Kompradorenbourgeoisie widersprochen hat, offenbarten die westlichen Imperialisten ihre wahre Haltung gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Nation, indem sie die missliebige Regierung durch die massive finanzielle und organisatorische Unterstützung der prowestlichen Protestbewegung auf dem Maidan beseitigten.

Das Selbstbestimmungsrecht der ukrainischen Nation wird nun wiederum durch die russische Besatzung verletzt. Der russische Imperialismus versucht das ukrainische Territorium und das ukrainische Volk den militärischen und ökonomischen Zwecken des US-Imperialismus und seiner imperialistischen Verbündeten zu entziehen und für die eigenen militärischen und ökonomischen Zwecke zu sichern. Nach dem gescheiterten Versuch, die Regierung in Kiew mit einem schnellen Enthauptungsschlag gegen eine ihnen zugewandte Regierung auszutauschen und aufgrund der falschen Einschätzung vom ukrainischen Volk als Befreier empfangen zu werden, versucht Russland jetzt ukrainisches Territorium im Osten zu besetzen, um so sicherzustellen, das dort definitiv keine NATO-Truppen stationiert werden können. Ein weiteres zentrales Kriegsziel Russlands ist es, eine Landverbindung zur Krim zu erobern, um den militärisch wichtigen Hafen von Sewastopol abzusichern, der Stützpunkt seiner Schwarzmeerflotte ist. Den Kampf gegen das ukrainische Militär ergänzt Russland mit Raketen- und Drohnenangriffen auf Infrastruktur und Städte, um die Moral des ukrainischen Volkes zu zermürben.

2. Der interimperialistische Widerspruch zwischen den USA und Russland

Die USA stehen an der Spitze einer Weltordnung, die sie sich seit dem Ende des zweiten Weltkriegs geschaffen haben. Das macht sie zur hegemonialen imperialistischen Weltmacht. Diese Stellung wollen sie behalten und weiter ausbauen. Für diesen Zweck wollen die USA ihren zur Zeit einzigen militärischen Konkurrenten auf Weltebene ausschalten, um selber noch freier in der Handhabung des Widerspruchs zwischen Imperialismus und unterdrückten Nationen zu werden. Der US-Imperialismus will der einzige Akteur sein, der eigenständig entscheidet, wann und wo es angebracht ist, auf der Welt Interessen mit kriegerischen Mitteln durchzusetzen. Vor allem wollen sie keinen Konkurrenten haben, der ihnen dabei in die Quere kommt. Deshalb sorgen sie dafür, dass Russland tatsächlich, wie Obama gesagt hat, eine „Regionalmacht“ wird. Auch damit Russland kein wichtiger Bündnispartner für den aufsteigenden, noch hauptsächlich ökonomischen, aber bald auch wichtigsten militärischen Konkurrenten China sein kann. Insofern ist der Krieg in der Ukraine ein Stellvertreterkrieg, in dem die USA Russland aufreiben wollen, um es seiner militärischen Macht zu berauben. Dafür rüsten sie die Ukraine zusammen mit Deutschland und anderen westlichen Verbündeten, mit den dafür nötigen finanziellen und militärischen Mitteln inklusive kriegswichtiger Geheimdienstinformationen aus, die sie braucht, um sich erfolgreich verteidigen zu können. Dadurch verstärken sie die Abhängigkeit der Ukraine von ihnen und machen sie zu ihrer Halbkolonie.

Das Ganze ergänzen sie mit einem Wirtschaftskrieg, der darauf abzielt, die ökonomische Grundlage des russischen Imperialismus zu vernichten und die Zustimmung der russischen Bourgeoisie und Teilen des russischen Volkes zum Krieg zu untergraben.

a) Die ökonomische und militärische Macht der USA

Die US-Bourgeoisie ist die ökonomisch potenteste imperialistische Bourgeoisie der Welt. Sie verfügt nicht nur über einen riesigen Binnenmarkt, eine eigenständige Industrie, natürliche Ressourcen und eine große Menge hinreichend qualifizierter Arbeitskraft, sondern exportiert ihr Kapital in alle Welt und macht sich damit die Reichtumsquellen dort zunutze. Um ihr Kapital überall hin exportieren zu können, brauchen die USA eine militärische Macht, die weltweit amerikanische Interessen verteidigen kann, wenn dies notwendig ist. Insbesondere im Falle von Halbkolonien, die sich nicht in ihre Weltordnung einordnen wollen. Die dafür nötige und dazu fähige militärische Macht haben sie sich seit dem 2. Weltkrieg zugelegt, aus dem sie als einziger beinahe unbeschädigter Teilnehmer hervorgegangen sind. Leisten können sie sich diese militärische Macht aufgrund dessen, dass der Dollar Weltgeld1 ist, und von allen Kapitalisten, die auf dem Weltmarkt agieren wollen, gebraucht wird. Aus diesem Grund investieren Kapitalisten aus aller Welt in den USA. Sie kaufen beispielsweise US-amerikanische Staatsanleihen, die als die sichersten Kapitalanlagen der Welt gelten und stellen dem US-amerikanischen Staat so enorme finanzielle Mittel zur Verfügung. Dieser kann sich also aufgrund seiner unangezweifelten ökonomischen Potenz bei der ganzen Welt beinahe unbegrenzt verschulden und damit seine benötigte militärischen Mittel finanzieren.

b) Die ökonomische und militärische Macht Russlands

Russland exportiert hauptsächlich Rohstoffe und Waffen, hat aber in diesen Branchen wichtige Monopole, die auf dem Weltmarkt mitmischen. Das russische Finanzkapital ist hauptsächlich eine Verschmelzung aus Bankkapital und Rüstungsgüter-produzierendem Industriekapital oder Rohstoffe-förderndem und vertreibenden Industrie- und Handelskapital. Somit hat die militärische Macht Russlands eine gewisse ökonomische Grundlage, aber beruht hauptsächlich auf seinem sowjetischen Erbe (u. a. dem größten Atomwaffenarsenal der Welt). Russland ist neben den USA die einzige imperialistische Macht, die unabhängig vom US-Imperialismus, also gegen dessen Interessen global Krieg führen kann (siehe Georgien, Syrien, Mali …). Das heißt Russland ist eine Weltmacht, die unabhängig den Widerspruch zwischen Imperialismus und unterdrückten Nationen handhaben kann. Somit ist Russland trotz seiner ökonomischen Schwäche noch der wichtigste imperialistische Konkurrent des US-Imperialismus.

3. Die Widersprüche innerhalb des Westens

Die USA ordnen sich andere imperialistische Länder wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien unter, um ihre ökonomischen und militärischen Mittel für sich einzuspannen. Diese versprechen sich von der Unterordnung unter die USA Rücksichtnahme auf ihre eigenen Interessen bei der gemeinsamen Handhabung des Widerspruchs zwischen Imperialismus und unterdrückten Nationen und bei der Handhabung der Widersprüche mit imperialistischen Rivalen wie Russland und China. So gibt es mit der NATO ein westliches Militärbündnis unter der Führung der USA als stärkster Macht, in dem die militärischen Potenzen der Mitgliedstaaten miteinander koordiniert eingesetzt werden können, um gemeinsame Feinde zu bekämpfen.

Das streicht den Gegensatz zwischen den westlichen Imperialisten allerdings nicht durch. Auch diese bleiben in ihrer Kooperation Konkurrenten. Das kann man im Falle des Konflikts in der Ukraine bereits vor dem Putsch 2014 beispielsweise dem geleakten Telefonat zwischen der damaligen Europabeauftragten im US-Außenministerium, Victoria Nuland und dem US-Botschafter in der Ukraine, Geoffrey Pyatt entnehmen, in dem Nuland als Reaktion auf Uneinigkeit zwischen den USA und der EU bei der Auswahl des geeigneten Führungspersonals nach einem Putsch den eindeutigen Satz „Fuck the EU“ äußerte.2

Ein aktuelleres Beispiel wäre das „Drama“ um die Nordsee-Pipeline Nordstream 2, das am 26.09.2022 sein fulminantes Ende nahm. Jahrelang hatten die USA versucht, den Bau der Gaspipeline von Russland nach Deutschland zu verhindern, um nach eigenen Angaben „Europas Energiesicherheit“ zu garantieren. In Wirklichkeit ging es ihnen wohl eher darum, dass für beide Seiten sehr einträgliches Geschäft zwischen Deutschland und Russland zu sabotieren, das an US-amerikanischen Halbkolonien und somit an ihrem Einflussgebiet vorbeiführte. Nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine haben sich die USA wohl dazu entschlossen, dem – wie Biden vor dem Einmarsch Russlands in der Ukraine auf der Pressekonferenz mit Scholz angekündigt hat3 – ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Zumindest sind sie es, die am meisten von der Sprengung der Pipelines profitieren und die Mittel haben, diese durchzuführen.

4. Die Deutsche Mobilmachung

Der deutsche Imperialismus nutzt die Eskalation des interimperialistischen Widerspruchs mit Russland als Rechtfertigung für eine massive Aufrüstung (Stichwort Zeitenwende), um die von den USA zugedachte militärische Rolle in der Kontrolle Osteuropas, Nordafrikas und Westasiens einnehmen zu können. Darüber hinaus will Deutschland dadurch unabhängiger von den USA und Frankreich werden, also auch im interimperialistischen Widerspruch innerhalb des eigenen Bündnisses seine Interessen besser durchsetzen können. Dafür nutzt Deutschland seine ökonomische Potenz und verschuldet sich mit 100 Milliarden Euro, um ein „Sondervermögen“ für die Bundeswehr zu finanzieren. Zusätzlich will Deutschland das von den USA seit Langem geforderte Ziel von jährlich 2 % des BIP für den Verteidigungshaushalt erfüllen, um so langfristig seine militärische Aufrüstung voranzubringen.

Dies geht einher mit dem Versuch, einen militaristischen Konsens herzustellen, damit der Klassenkampf innerhalb der BRD nicht beim wiederholten Griff nach der Weltmacht zum Problem wird. Die bürgerliche Öffentlichkeit macht dabei bereitwillig mit und insbesondere der grüne und linksliberale Teil von ihr wird zum glühendsten Verfechter eines selbstbewussten und wertegeleiteten deutschen Imperialismus, der seiner Verantwortung überall auf der Welt gerecht werden muss. Die ehemals vor allem sozialdemokratische Politik der wirtschaftlichen Kooperation mit Russland aufgrund des dadurch erlangten Vorteils für den Standort Deutschland in der imperialistischen Konkurrenz wurde endgültig aufgegeben und der Krieg gegen Russland zur Priorität erklärt. So liefert Deutschland schwere Waffen in die Ukraine und will, wie Annalena Baerbock es ausdrückt, „Russland ruinieren“. Trotz der wirtschaftlichen Folgen für das deutsche Kapital und der damit einhergehen Gefahr für den sozialen Frieden, die das unmittelbar hat (Stichwort Inflation).

Gleichzeitig wird die Opposition dagegen aktiv unter antisemitische und reaktionäre Führung bugsiert, wie das schon vorher bei den Protesten gegen die Corona-Politik der Fall war. So sorgt die Bundesregierung dafür, dass diese Opposition nicht zu einer ernsthaften Gefahr für den deutschen Imperialismus wird. Es liegt allerdings auch an der Schwäche der revolutionären Bewegung, dass ihr das so gut gelingt.

5. Die Stellung der Kommunisten zum imperialistischen Krieg Russlands

Die Ukraine ist die Beute, um die sich die russischen und westlichen Imperialisten miteinander schlagen. Während die westlichen Imperialisten die Unabhängigkeit der Ukraine zumindest formell anerkannt haben, weil sie ihre Interessen durch ökonomische, militärische und politische Abhängigkeiten der ukrainischen Kompradorenbourgeoisie auch ohne militärischen Zwang durchsetzen können, bricht der russische Imperialismus das Selbstbestimmungsrecht der ukrainischen Nation aktuell mit militärischer Gewalt. Dadurch ist er zum Hauptfeind des ukrainischen Volkes geworden. Der Krieg für die nationale Selbstbestimmung des ukrainischen Volkes ist gerechtfertigt, obwohl er unter bürgerlicher Führung stattfindet. Proletarischer Internationalismus besteht nicht darin, über das bürgerliche Bewusstsein der Massen und die mangelnde Existenz einer Kommunistischen Partei in der Ukraine oder Deutschland zu jammern, sondern das Bewusstsein der Massen zu heben und die Kommunistische Partei zu rekonstituieren. Das tut man nicht, indem man dem einen oder dem anderen Imperialisten die Daumen drückt, sondern indem man einen Beitrag zum ideologischen Klassenkampf leistet und die Massen politisiert, mobilisiert und organisiert. Vor allem tut man es nicht, indem man die Parole „Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt euch!“ relativiert. Wenn man sich als Kommunist ignorant gegenüber dem Mobilisierungspotenzial der Massen im Kampf für nationale Selbstbestimmung in unterdrückten Nationen stellt, dann wird man ihnen ewig nur nachtraben.

Stattdessen muss man sich an die Spitze des Kampfes stellen und durch seine konsequente Führung das Vertrauen bei den Massen gewinnen und so diesen Kampf zu einem Beitrag für die proletarische Weltrevolution machen. Der Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen kann national überhaupt nur siegreich sein durch eine neudemokratische bzw. sozialistische Revolution, in der die Kompradorenbourgeoisie enteignet und die Imperialisten vertrieben werden. International kann dieser Kampf nur siegreich sein durch die proletarische Weltrevolution. Dafür muss er zu diesem Ziel geführt und nicht jämmerlich verworfen werden.

1 In dem Artikel „Zum Krieg in der Ukraine“ haben wir den Putsch fälschlicherweise als faschistisch bezeichnet. Die Beteiligung faschistischer Kräfte damals und ihr Einfluss im ukrainischen Staat, insbesondere in Militär und Geheimdienst heute, sind nicht zu leugnen, aber sie sind nicht diejenigen, die herrschen.

2 https://www.bbc.com/news/world-europe-26079957

3 https://www.youtube.com/watch?v=OS4O8rGRLf8