PoMo-Periodika #1: Foucaults Diskursbegriff

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PoMo-Periodika #1: Foucaults Diskursbegriff
Eine Kritik an Foucaults Diskursbegriff
anhand seiner Schrift „Die Ordnung des Diskurses“

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Kritik am Diskursbegriff

Die Ausschließungssysteme

Die Verknappungssysteme

Die Methodik

Schluss

Einleitung

Leute lesen Foucault, und meinen, dass ihnen die Lektüre etwas bringt für den Zweck, diese Gesell­schaft zu verstehen. Wir werden in diesem Text nachweisen, dass der Diskursbegriff nichts für die Erkenntnis der Gesellschaft taugt. Vorher wollen wir uns aber einmal fragen, wer liest warum Fou­cault? Die Leserschaft Foucaults besteht aus dem akademischen Teil des Kleinbürgertums im weite­ren Sinne, der sogenannten Intelligenz, und noch enger dem linksliberalen bis linksradikalen Teil der Intelligenz. Das sind Menschen, die eine politische Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen haben, und ein daraus resultierendes Erkenntnisinteresse an der Gesellschaft. Die le­sen dann Foucault, und kommen häufig zu dem Urteil, dass ihnen die Lektüre für dieses Erkenntnis­interesse etwas gebracht hätte. Insbesondere kommen sie zu dem Urteil, dass Foucaults Diskursbe­griff ihnen dafür tauge, die bürgerliche Öffentlichkeit zu verstehen. Woran liegt das?

Die bürgerliche Öffentlichkeit1 ist eine kollektive Praxis, in der Individuen und Gruppen von Indivi­duen gemäß ihren Interessen agieren, und ideologischen Einfluss auf die Gesellschaft ausüben. Da es eine kollektive Praxis lauter einander widersprechender Zwecke ist, verselbständigt sich der Pro­zess auch gegenüber seinen Subjekten. Gleichzeitig stimmt weiterhin, dass die herrschende Mei­nung die Meinung der Herrschenden ist. Denn die Bourgeoisie hat die Produktionsmittel in der Hand, auch die zur Produktion von Meinungen. Die Bourgeoisie bestimmt über die Algorithmen, nach denen das Internet funktioniert. Die Bourgeoisie bestimmt, was im Fernsehen läuft. Die Bour­geoisie bestimmt, was in den meisten Zeitungen steht. Die Bourgeoisie bestimmt, was im Lehrplan der Schulen steht. Doch auch der mächtigste Akteur der bürgerlichen Öffentlichkeit ist nur ein Teil eines widersprüchlichen Ganzen, und kann auf den sich seinem Tun und seinen Zwecken gegenüber verselbständigten Prozess nur Einfluss nehmen, aber nicht ihn völlig bestimmen.

Die materiellen Verhältnisse selbst sind Ausgangspunkt für bürgerliche und proletarische Ideologie. Und auch das Proletariat nimmt teil an der bürgerlichen Öffentlichkeit. Durch Demonstrationen, Krawalle, eigene Zeitungen, Accounts in den von der Bourgeoisie kontrollierten sozialen Netzwer­ken, Gespräche am Küchentisch, in Schule, Betrieb, Sportverein und Hausflur. Die Bourgeoisie kann zwar die Regeln der bürgerlichen Öffentlichkeit durch Gesetze und Tabus, Direktiven und so­ziale Strafen bestimmen, aber muss dies immer gegen den Widerstand der Massen tun. Die Ideen, die verbreitet werden, tragen immer den Stempel einer Klasse, dienen entweder hauptsächlich der Bourgeoisie oder hauptsächlich dem Proletariat.

Die Verselbständigung des Prozesses der bürgerlichen Öffentlichkeit gegenüber den Zwecken, der an ihr beteiligten Subjekte ist das Moment der bürgerlichen Öffentlichkeit, an das Foucault mit sei­nem Diskursbegriff anknüpft. Allerdings leistet er nicht, was zu leisten wäre, nämlich ihre Funkti­onsweise zu beschreiben, und die Gesetzmäßigkeiten, die sich durch das Handeln ihrer Subjekte vollziehen, zu bestimmen. Die Verlaufsform der Widersprüche der bürgerlichen Öffentlichkeit zu beschreiben und zu bestimmen, wäre der Begriff der bürgerlichen Öffentlichkeit.

Die Ordnung des Diskurses ist die verschriftlichte und erweiterte Fassung von Foucaults am 02.12.1970 gehaltenen Antrittsvorlesung am College de France. Darin skizziert er, was er in den kommenden Jahren als Professor für Geschichte der Denksysteme vorhat und fasst seine bisheri­ge Arbeit zusammen.

Er gibt in diesem Text annähernd eine Definition seines Diskursbegriffs. Foucault beschreibt, wie der „Diskurs“ durch „Auschließungs- und Verknappungssysteme“ reguliert werde und sich selbst regu­liere. Die Ausschließungssysteme (Verbot, Unterscheidung von Wahnsinn und Vernunft, Wille zur Wahrheit) wirkten von außen auf den Diskurs. Die Verknappungssysteme (Kommentar, Autor, Dis­ziplin) seien interne Prozeduren, mit denen sich der Diskurs selbst reguliere. Darüber hinaus nennt er noch Prozeduren der Verknappung der sprechenden Subjekte (Ritual, Diskursgesellschaft, Dok­trin). Davon ausgehend definiert er methodische Grundsätze seiner Diskursanalyse (Umkehrung, Diskontinuität, Spezifizität, Äußerlichkeit).

Im Folgenden gehen wir den Text im Grunde von vorne bis hinten durch, und arbeiten anhand von Zitaten den Diskursbegriff heraus, um ihn kritisieren zu können. Wir leisten also eine immanente Kritik.2 Gleichzeitig liefern wir mit diesem Text eine implizite Verteidigung des dialektischen und historischen Materialismus.

Zuvor führen wir hier aber ein längeres Zitat aus Rolf Parrs Eintrag zum Diskurs im Foucault Hand­buch an, der mehr Schriften von Foucault zu Grunde liegen hat, als die hier vorliegende Kritik, und das Verständnis der teils kryptischen Zitate vielleicht erleichtert.

[Bei Foucault] steht Diskurs […] erstens für das »allgemeine Gebiet aller Aussagen«, sodass in dieser Hinsicht von dem Diskurs im Singular zu sprechen ist. Auf dieser Ebe­ne der Analyse geht es um die allen Diskursen gleichermaßen zuzusprechenden Charak­teristika und Funktionen, wobei bereits auf dieser Ebene der Gedanke entwickelt wird, dass unser Wissen von der Welt immer diskursiv vermittelt ist. Zweitens meint Diskurs eine jeweils »individualisierbare Gruppe von Aussagen«, die zu einem spezifischen Dis­kurs gehört, ihn konstituiert, neben der es aber auch andere Gruppen von Aussagen gibt, womit Diskurse pluralisch zu denken sind (ein Diskurs im Kontext anderer). Das bedeu­tet u.a., dass verschiedene Diskurse das, was wir im Alltag vielleicht zunächst als einen einzigen Gegenstand ansehen, als ganz unterschiedliche, dann eben diskursive Gegen­stände konstituieren können. […] Drittens schließlich bezeichnet Diskurs eine »regulier­te Praxis« (AW, 116), die ein bestimmtes Feld von Aussagen hervorbringt, ne­ben dem es weitere solche Felder gibt, die von anderen Diskursen konstituiert werden. Auf dieser Ebene geht es um »die Gesamtheit der Bedingungen, nach denen sich eine« bestimmte »Praxis vollzieht« (AW, 297). Diskurse im Sinne der beiden letzten Bestim­mungen beziehen sich demnach auf je spezielle Wissensausschnitte, wobei Diskurs im­mer nur die sprachliche Seite einer weitreichenden diskursiven Praxis, also ein ganzes Ensemble von Verfahren der Wissensproduktion meint, das seine Gegenstände allererst hervorbringt, sie konstituiert.3

Mit diesem Zitat ist Foucaults Diskursbegriff schonmal hinlänglich vom alltäglichen Gebrauch des Wortes abgegrenzt.4 Außerdem erleichtert das Zitat es, sich in dem teils widersprüchlichen Ge­brauch des Worts in Die Ordnung des Diskurses zu Recht zu finden.

Kritik am Diskursbegriff

Im Laufe des Textes erscheint der Begriff „Diskurs“ mal als Subjekt, mal als Objekt. Diese mangel­haften Bestimmungen bilden die Grundlage der Kritik. Wir versuchen die Kritik so weit zu entwi­ckeln, wie das jeweilige Zitat es hergibt, allerdings wurde die Kritik verfasst, nachdem man den ge­samten Text gelesen und diskutiert hatte. Wenn der Leser also den Eindruck hat, dass wir mit der Kritik an den anfänglichen Zitaten über das Ziel hinaus schießen würden, dann sei er dazu eingela­den, den Text in Gänze zu lesen, und zu sehen, dass die späteren Zitate die Kritik an den anfängli­chen Zitaten bestätigen.

Die Hypothese, die ich heute abend entwickeln möchte, um den Ort – oder vielleicht das sehr provisorische Theater – meiner Arbeit zu fixieren: ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.5

In diesem ersten Zitat erfährt der Leser über den Diskurs, dass dieser „zugleich kontrolliert, selek­tiert, organisiert und kanalisiert“ werde, und zwar durch „gewisse Prozeduren“. Denn der Diskurs habe „Kräfte und Gefahren“, etwas „unberechenbar Ereignishaftes“ und eine „schwere und bedroh­liche Materialität“, die auf diese Art gehandhabt würden.

Der passivische Satzbau lässt das Subjekt des Ganzen im Dunkeln. Wer kontrolliert, selektiert, orga­nisiert, und kanalisiert den Diskurs? Und warum? Zwar werden wir über das Subjekt und seine Gründe, seine Interessen nicht aufgeklärt, so erfahren wir aber doch etwas über den Zweck des Ge­schehens. Es gehe bei den „gewissen Prozeduren“ darum, die darauf folgenden Bestimmungen des Diskurses in Schach zu halten. Es lohnt sich, diese näher zu betrachten. Das „unberechenbar Ereig­nishafte“ ist als Bestimmung weniger eine analytische Aussage über den Gegenstand, als viel mehr ein Geständnis des Theoretikers, dass Analyse nicht seine Sache ist. Denn darin kommt gerade der Unwille, sich mit den Gründen und der Notwendigkeit des Diskurses auseinanderzusetzen, zum Ausdruck. Stattdessen wird dieser als „unberechenbar ereignishaft“ verrätselt, und der Unwille des Theoretikers zur Analyse wird der Sache als ihre Eigenschaft angelastet. Die „schwere und bedroh­liche Materialität“ ist lediglich rhetorische Effekthascherei, die weniger auf Verständnis als auf ein „Hört! Hört!“ und „Ahh!“ abzielt. Zugleich wird mit dem Wort Materialität suggeriert, dass man sich in irgendeiner Weise in der Tradition der materialistischen Philosophie befinde, zumindest wird sich von den derbsten Formen des Idealismus distanziert.

Die Ausschließungssysteme

Dieser Nicht-Bestimmung des Diskurses schließt sich eine Erörterung der sogenannten Ausschlie­ßungssysteme (Verbot, Unterscheidung von Wahnsinn und Vernunft, Wille zur Wahrheit) an.

Zum Verbot schreibt Foucault:

Die sichtbarste und vertrauteste [Prozedur der Auschließung] ist das Verbot. Man weiß, dass man nicht das Recht hat, alles zu sagen, dass man nicht bei jeder Gelegenheit von allem sprechen kann, dass schließlich nicht jeder beliebige über alles beliebige reden kann. Tabu des Gegenstandes, Ritual der Umstände, bevorzugtes oder ausschließliches Recht des sprechenden Subjekts – dies sind die drei Typen von Verboten, die sich über­schneiden, verstärken oder ausgleichen und so einen komplexen Raster bilden, der sich ständig ändert. Ich möchte nur anmerken, dass es heute zwei Bereiche gibt, in denen der Raster besonders eng ist und die Verbote immer zahlreicher werden: die Bereiche der Sexualität und der Politik. Offensichtlich ist der Diskurs keineswegs jenes transparente und neutrale Element, in dem die Sexualität sich entwaffnet und die Politik sich befrie­det, vielmehr ist er ein bevorzugter Ort, einige ihrer bedrohlichsten Kräfte zu entfalten. Der Diskurs mag dem Anschein nach fast ein Nichts sein – die Verbote, die ihn treffen, offenbaren nur allzubald seine Verbindung mit dem Begehren und der Macht. Und das ist nicht erstaunlich. Denn der Diskurs – die Psychoanalyse hat es uns gezeigt – ist nicht einfach das, was das Begehren offenbart (oder verbirgt): er ist auch Gegenstand des Be­gehrens; und der Diskurs – dies lehrt uns immer wieder die Geschichte – ist auch nicht bloß das, was die Kämpfe oder die Systeme der Beherschung in Sprache übersetzt: er ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemäch­tigen sucht.6

Der Verrätselung des Diskurses als „unberechenbar Ereignishaftes“ bleibt diese Passage insofern treu, als dass auch sie keine Gründe dafür nennt, warum der Diskurs ist, was er ist, und warum die­jenigen, die ihn gestalten, tun, was sie tun. Stattdessen wird der Diskurs weiterhin als etwas defi­niert, was sich unberechenbar ereigne, aber eben in einem durch das Verbot beschränkten Rahmen. Man darf sich das Ganze wie die grafische Darstellung einer Polynomgleichung im beschränkten Zahlenraum vorstellen; eine scheinbar chaotische Anordnung von Punkten.

Dadurch dass der Diskurs in Zusammenhang mit den Begriffen Macht und Begehren gebracht wird, kommt immerhin das Subjekt „man“ (im französischen Original „on“) mit ins Spiel, wodurch die passivische Formulierung aus der vorherigen Passage vermeintlich überwunden wird. Doch es bleibt dabei, dass der Leser nicht weiß, wer warum was tut. So bleiben die Subjekte, die den Dis­kurs herstellen, und mit und um ihn kämpfen, genauso unbestimmt wie in der passivischen Formu­lierung zuvor. Der Diskurs verharrt in seiner Verrätselung als „unberechenbar Ereignishaftes“. Die einzige Bestimmung, die hier gemacht wird, ist, was der Diskurs nicht ist, nämlich das, was außer­halb des Auschließungssystems Verbot liegt. Diese negative Bestimmung ist folgerichtig, wenn man davon ausgeht, gar nicht bestimmen zu können, was der Diskurs positiv ist, und warum er das ist. Im Verlaufe dieses Textes wird sich zeigen, dass Foucault auch gar nicht mehr will als die negative Beschreibung des Möglichkeitsraums von sprachlichen Erscheinungen.

Auf den nächsten Seiten führt Foucault einiges zur Unterscheidung von Vernunft und Wahnsinn aus, was auch in passivischen Konstruktionen geschieht. Die Beschreibung dessen, dass zwischen Ver­nunft und Wahnsinn unterschieden wird, kommt auch ohne die Bestimmung aus, wer warum diesen Unterschied macht, und vor allem, ob die Unterscheidung etwas an der Sache trifft. Die Denunziati­on abweichender politischer Meinung als wahnsinnig wäre ein Gegenstand, den man sich vorneh­men und erklären könnte. Man könnte prüfen, ob die Kategorisierung Wahnsinn und Vernunft etwas an den Sachen trifft, die so kategorisiert werden, und wenn ja was. Das tut Foucault aber nicht.

Denn wie Foucault in der nächsten Passage kund tut, sind wahr und falsch gar keine Kategorien, die ein tatsächliches Verhältnis zwischen einem Gegenstand und einer ihn betreffenden Aussage be­zeichnen, sondern bloß ein Ausschließungssystem. Der objektive Gehalt der folgenden Aussagen ist, dass es eine Geschichte der Kriterien von Wahrheit gibt.

Mit diesem Zitat gibt Foucault sich selbst die Position des unparteiischen Erkenntnistheoretikers:

Es sieht so aus, als hätte seit der großen Platonischen Grenzziehung der Wille zur Wahr­heit seine eigene Geschichte, welche nicht die der zwingenden Wahrheiten ist: eine Ge­schichte der Funktionen und Positionen des erkennenden Subjekts, eine Geschichte der materiellen, technischen, instrumentellen Investitionen der Erkenntnis.7

Das ist einsich selbst relativierender, verallgemeinernde Schluss zu den wissenschaftshistorischen Fragmenten, die Foucault auf den zwei Seiten davor aneinander reiht. Diese scheinbare Gleichgül­tigkeit gegenüber der Kategorie der Wahrheit, scheint ihren historischen Wandel bloß zu beschrei­ben, scheint neutral, geradezu objektiv, und darüber auch kritisch zu sein. Tatsächlich ist diese Be­schreibung der Wissenschaftsgeschichte und der Schluss daraus nichts von alledem. Es ist eine ver­klausulierte Parteinahme für die idealistische Philosophie.

Worin besteht die Parteinahme für den Idealismus? Der Stand der Forschung und Philosophie wird von Foucault als „Erscheinen neuer Formen des Willens zur Wahrheit“ gesehen. Nach dem Verhält­nis von der Theorie über die Welt einerseits und der objektiven Welt andererseits wird überhaupt nicht gefragt. Es ist der rhetorische Taschenspielertrick eines Idealisten, der versucht, den Streit zwischen Materialismus und Idealismus, ob man die Welt erkennen könne, durch einen Gegen­standswechsel zu gewinnen. Eine Geschichte der Funktionen und Positionen des erkennenden Sub­jekts kommt scheinbar ohne eine Entscheidung in diesem Streit aus, aber hat in Wahrheit den Stand­punkt des Idealismus zur impliziten Grundlage. Wir sagen hier nicht, dass man sich nicht mit For­men losgelöst von ihren Inhalten befassen kann, aber Foucault befasst sich mit der Form, um den Inhalt zu leugnen.

Der Idealismus offenbart sich, wenn man das folgende Zitat hinzunimmt:

Dieser Wille zur Wahrheit stützt sich, ebenso wie die übrigen Ausschließungssysteme, auf eine institutionelle Basis: er wird zugleich verstärkt und ständig erneuert von einem ganzen Geflecht von Praktiken wie vor allem natürlich der Pädagogik, dem System der Büche, der Verlage und der Bibliotheken, den gelehrten Gesellschaften einstmals und den Laboratorien heute. Gründlicher noch abgesichert wird er zweifellos durch die Art und Weise, in der das Wissen in einer Gesellschaft eingesetzt wird, in der es gewertet und sortiert, verteilt und zugewiesen wird. Es sei hier nur symbolisch an das alte grie­chische Prinzip erinnert: das die Arithmetik in den demokratischen Städten betrieben werden kann, da in ihr Gleichheitsbeziehungen gelehrt werden; dass aber die Geometrie nur in den Oligarchien unterrichtet werden darf, da sie die Proportionen in der Un­gleichheit aufzeigt. Schließlich glaube ich, dass dieser auf einer institutionellen Basis und Verteilung beruhende Wille zur Wahrheit in unserer Gesellschaft dazu tendiert, auf die anderen Diskurse Druck und Zwang auszuüben.8

All die unterschiedlichen Dinge, die hier aufgelistet werden, sollen eine institutionelle Basis und Praktiken sein. Und zwar Praktiken, die den Diskurs des Willens zur Wahrheit verstärken und stän­dig erneuern würden. Darüber hinaus wird der Diskurs des Willens zur Wahrheit abgesichert, und zwar durch die Art und Weise, wie Wissen in einer Gesellschaft gewertet, sortiert, zugewiesen und verteilt würde. Eine Praxis ohne Gründe, ohne Zwecke, ohne Subjekte. Denn was den Anschein ei­nes Subjekts macht, soll ja selbst die Praxis sein, alle Prädikate bleiben im Passiv und so ist am Ende das Subjekt schon wieder verschwunden. Wer macht was warum? Man weiß es nicht.

Interessanterweise wird der Wille zur Wahrheit ganz nebenbei von einem Ausschließungssystem des Diskurses im Allgemeinen selbst zu einem Diskurs.9

Jedenfalls hat der Wille zur Wahrheit selbst irgendwie ganz schön viel mit Macht und Begehren zu tun, und wird in irgendeiner Weise von einer subjektlosen Praxis reproduziert. Das ist eine Distan­zierung von der Kategorie der objektiven Wahrheit, ihre implizite Leugnung. Gleichzeitig wird mit der institutionellen Basis und dem Verstärken und Erneuern suggeriert, dass es hier furchtbar dialek­tisch und wahrscheinlich auch materialistisch zuginge. Es ist aber weder das eine noch das andere, sondern ein heilloses Tohuwabohu, das in seiner Verrätselung eine implizite Parteinahme für den metaphysischen Idealismus ist. Denn das hyperdialektische Getue, das die Dinge nicht mehr als Einzelne und Besondere fasst, die in einem bestimmten Verhältnis und einer bestimmten Wechsel­wirkung zueinander stehen, lässt nur noch einen unbestimmten Brei von Verhältnissen übrig zwi­schen unbestimmten Dingen, der nicht viel mehr über die Welt aussagt, als Parmenides’ „Das Sein ist“. So schlägt die hyperdialektische Weigerung, mit der Metaphysik so weit mitzugehen, das Ein­zelne anzuerkennen, selbst in die derbste Metaphysik um.

Michael Sellhoff, der den Eintrag zu Die Ordnung des Diskurses im Foucault Handbuch schrieb, wendet gegen diese Kritik folgendes ein:

Der Einwand der Kritik, Foucaults Pluralisierung der Wahrheit öffne haltlosem Relati­vismus Tür und Tor (vgl. Habermas 1985), trifft nicht die Ordnung des Diskurses, denn »auf der Ebene eines Urteils innerhalb eines Diskurses ist die Grenzziehung zwischen dem Wahren und dem Falschen weder willkürlich noch veränderbar« (O Dis, 13). Fou­caults These von der Geschichtlichkeit und Machtbedingtheit der Wahrheit bedeutet ge­rade nicht die Ablehnung oder Negierung von Wahrheit überhaupt. Wie die Alternative zu einer Diskursordnung nicht »ein Chaos, […] sondern eine andere Ordnung« (Visker 1991, 147) ist, so alternieren auch verschiedene Wahrheiten nicht willkürlich, sondern ändern sich – als Radikalisierung der kritischen Perspektive Kants – gemäß den Bedin­gungen des »historischen Apriori« (vgl. Lemke 1999, 178-183).10

Wir haben uns nicht die Mühe gemacht, herauszufinden, was der Reaktionär Habermas gegen Fou­cault ins Feld geführt hat. Aber unsere Kritik ist davon nicht getroffen. Denn Foucaults Behauptung, dass die Wahrheit einer Aussage i n n e r h a l b eines Diskurses weder willkürlich noch veränderbar sei, beruht auf der gleichen scheinbaren Stellung außerhalb des Streits von Materialismus und Idea­lismus. Durch die Behandlung der Wahrheit als Kategorie innerhalb des Diskurses, die mit der ob­jektiven Welt nichts zu tun hat, wird eine implizite Stellungnahme für den Idealismus gemacht. Das ist haltloser Relativismus. Denn die Relation zwischen der Theorie und Praxis, die relative Identität von Gegenstand und Begriff, wird geleugnet, indem die Wahrheit als bloß dem Diskurs immanente Kategorie behandelt wird.

Dass unsere Kritik zutrifft, zeigt sich auch am Eintrag zum Begriff Wahrheit im Foucault Hand­buch, der von Stephan Günzel geschrieben wurde. Darin bestätigt Günzel unsere Kritik in apologe­tischer Weise:

In seiner Kritik am Wahrheitsbegriff der Philosophie ist Foucault nach eigener Auskunft von Friedrich Nietzsche beeinflusst, der die Definition der Wahrheit als Entsprechung zwischen Worten und Dingen seit Platon dem Verdacht einer Gleichsetzung des phäno­menal Verschiedenen unterzieht. (Dieser sogenannte >korrespondenztheoretische Wahr­heitsbegriff< wird vor allem in der Aristotelischen Metaphysik zugrundegelegt und lau­tet in der Formulierung des Thomas von Aquin: Veritas est adaequatio rei et intellectus). Foucault übernimmt sowohl die genealogische Datierung als auch den Erklärungsansatz von Nietzsche: Die Entstehung des Konzepts von Wahrheit als Entsprechung setzt Fou­cault im Übergang von Hesiod zu Platon an, wobei er wiederum Nietzsche folgt, der die hierzu vorausgehende Wahrheitsauffassung (exemplarisch bei Homer) im agon als in ei­ner kämpferischen Auseinandersetzung und der Durchsetzung nicht des Richtigen (Zu­treffenden), sondern des Stärkeren sieht. Wahrheit besteht nicht in der Wiedergabe einer Tatsache, sondern in der Tat selbst. Im Anschluss an Nietzsche definiert Foucault die Wahrheit des vorplatonischen Diskurses als Akt der Verwirklichung: Der Diskurs erfüll­te eine juridische Aufgabe und „sprach Recht“. (In späten Arbeiten verhandelt Foucault diese Wahrheitsauffassung dann unter dem Begriff der Parrhesia, dem >Wahrsprechen<). Der antike Wahrheitsdiskurs war stark ritualisiert, insofern ein Be­weis mittels der „archaischen Wahrheitsprobe“ erfolgte, d.h. durch eine exemplarische Demonstration der Handlungsfähigkeit. Mit Platon wird die Aufmerksamkeit demnach von der Wirkung einer Aussage auf die Aussage selbst verlegt, und eine Wahrheit, die im Dienste der Sache (des Mythos, der Religion, des Staates) steht, wird angesichts der Vorstellung einer eindeutigen Wahrheit fortan als relativistisch angesehen. Die Sophis­ten, die versuchten, jede erwünschte Meinung, die ihre Auftraggeber von diesen vertre­ten haben wollte, vor allem durch Rhetorik zu stärken, erschienen von hieraus nurmehr als Wahrheitsverdreher: „Der Sophist ist vertrieben“.
Erklärt wird der genealogisch-historische Umschlag von Foucault durch Nietzsches For­mel des „Willens zur Wahrheit“, wonach Wahrheit als ein Wert betrachtet wird, den der >Metaphysiker< anstrebt. Der >Wille zur Wahrheit< stellt für Nietzsche eine Sonder­form des >Willens zur Macht< dar und wird von Foucault im Hinblick auf den ebenfalls mit Nietzsche so bezeichneten „Willen zum Wissen“ thematisiert […]. Nach Nietzsche ist das Agon(ale), wodurch sich die vorplatonische Auffassung von Wahrheit auszeich­ne, die unverstellte Äußerungsform des Prinzips der Überbietung. Ein solches Macht­streben kann sich ebenso biologisch wie auch intellektuell äußern und kann im letzten Fall eben als >Wille zur Wahrheit< in Erscheinung treten. Dieser wendet sich jedoch ge­gen seine eigene Quelle (das >Leben<), sobald ausgeblendet werde, dass die Wahrheit stets mit einem Interesse verbunden ist, das heißt, dass an die Stelle des Wer (will Wahr­heit?) das Was (ist Wahrheit?) tritt. Über Nietzsche hinaus ist für Foucault aber nicht nur, nach den (individuellen) Instanzen der Macht zu fragen, sondern vor allem wie der >Wille zur Wahrheit< (diskursiv) in Erscheinung tritt, insofern er auch ein >Willen zum Wissen< ist: Das heißt, dass nicht nur Einzelne personalisierte Aussagen zu untersuchen sind, sondern epistemische Zusammenhänge.
Foucaults Analyse der Wahrheit ist im Zusammenhang mit seiner Methode zu sehen, die in einer >statistischen< Beschreibung besteht: Es geht Foucault selbst weder um Über­einstimmung (wie in der Korrespondenztheorie), noch um logische Kohärenz oder um sinnliche Evidzenz (wie in der Phänomenologie), sondern um Häufigkeit, oder ge­nauer: um „Häufungsformen“ sowie um die „Regelmäßigkeit“, mit der diskursive For­men auftreten.11

Foucaults Apologeten sagen selbst, dass ihn nicht das relative Entsprechungsverhältnis von Theorie und Praxis interessiert, sondern bloß eine statistische Beschreibung des Diskurses. Gleichzeitig stellt sich Foucault hiermit in eine Reihe mit Stirner und Vulgärmarxisten, die glauben, die Kritik einer Theorie schon fertig zu haben, wenn sie feststellen, dass sie jemandem nützt; nur dass es bei Foucault nie konkreter wird als „jemand“.

In unserer internen Debatte wurde gegen diese Kritik an Foucault eingewendet, dass er bei seinen Ausführungen zu Mendel die objektive Wahrheit von dessen Theorie der Vererbungslehre eingeste­he. Da wir uns vorstellen können, dass auch zukünftige Leser dieser Kritik, die Foucault wohlwol­lend gelesen haben, den gleichen Einwand erheben, wollen wir auf die fragliche Stelle näher einge­hen.

Man hat sich oft gefragt, wie die Botaniker oder die Biologen des 19. Jahrhunderts es fertig gebracht haben, nicht zu sehen, dass das, was Mendel sagte, wahr ist. Das liegt daran, dass Mendel von Gegenständen sprach, dass er Methoden verwendete, und sich in einen theoretischen Horizont stellte, welche der Biologie seiner Epoche fremd waren. Zweifellos hatte Naudin vor ihm die These aufgestellt, dass die Erbmerkmale diskret sind; aber wie neu und befremdend dieses Prinzip auch war, es konnte – zumindestens als Rätsel – dem biologischen Diskurs angehören. Mendel ist es, der das Erbmerkmal als absolut neuen biologischen Gegenstand konstituiert, indem er eine bis dahin unbe­kannte Filterung vornimmt; er löst das Erbmerkmal von der Art ab, er löst es vom Ge­schlecht ab, das es weitergibt; und der Bereich, in dem er es beobachtet, ist die unend­lich offene Serie der Generationen, in der es nach statistischen Regelhaftigkeiten auf­taucht und verschwindet. Dieser neue Gegenstand erfordert neue begriffliche Instrumen­te und neue theoretische Begründungen. Mendel sagte die Wahrheit, aber er war nicht „im Wahren“ des biologischen Diskurses seiner Epoche: biologische Gegenstände und Begriffe wurden nach ganz anderen Regeln gebildet. Es musste der Maßstab gewechselt werden, es musste eine ganz neue Gegenstandsebene in der Biologie entfaltet werden, damit Mendel in das Wahre eintreten und seine Sätze (zu einem großen Teil) sich bestä­tigen konnten. Mendel war ein wahres Monstrum, weshalb die Wissenschaft von ihm nicht sprechen konnte. Hingegen hatte Schleiden, 30 Jahre früher, indem er, mitten im 19. Jahrhundert, aber gemäß den Regeln des biologischen Diskurses, die pflanzliche Se­xualität leugnete, lediglich einen disziplinierten Irrtum formuliert. Es ist immer mög­lich, dass man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven „Polizei“ gehorcht, die man in jedem sei­ner Diskurse reaktivieren muss.12

Es gibt im Grunde zwei verschiedene Arten, dieses Zitat zu interpretieren. Entweder Foucault meint, dass der Theorie Mendels eine relative Identität mit der objektiven Realität zukommt, sie also relativ wahr ist, oder er meint, dass sie gemäß den Regeln des botanischen oder biologischen Diskurses, der sich an Mendel anschließt, wahr ist. Vermutlich meint er beides. Was für uns nur re­levant ist, ist, dass er im ersteren Fall die Existenz einer objektiven Wahrheit eingestehen würde. Dies rettet allerdings nicht seine Theorie und macht unsere zuvor formulierte Kritik nicht obsolet. Er leistet sich damit lediglich den gleichen Widerspruch wie jeder neunmalkluge Idealist, der erst die Unmöglichkeit der Erkennbarkeit des Tisches, an dem man sitzt, behauptet, und sich dann in der Praxis ignorant zu dem eigenen Schwachsinn stellt. Es ist schlicht eine weitere Inkonsistenz der Theorie. Das, was Foucault zur Wahrheit schreibt, erfährt durch das Eingeständnis einer objektiven Wahrheit nicht die höheren Weihen einer Ideologiekritik, wie sie in der Deutschen Ideologie, der Heiligen Familie oder in Materialismus und Empiriokritizismus zu finden ist, denn es ist etwas ganz anderes. Marx, Engels und Lenin haben in diesen Schriften die Philosophie ihrer idealistischen Gegner und den dazugehörigen Wahrheitsbegriff kritisiert, um den dialektischen Materialismus zu verteidigen, und die Philosophie der Praxis durchzusetzen, die die weltanschauliche Grundlage der proletarischen Weltrevolution ist. Foucault hat eine Weltanschauung propagiert, die zu nichts taugt außer räsonierendem Zweifel, der sich gegen jede Vernunft wendet, wodurch die Individuen die Möglichkeit verlieren, sich über das, was objektiv ist, auszutauschen, und einander für einen das In­dividuum transzendierenden Standpunkt zu gewinnen. Immer muss gezweifelt werden, ob hinter dem Grund für den proletarischen Klassenstandpunkt nicht bloß ein Wille zur Wahrheit stecke. Und das einzige, was bleibt, ist das Individuum. Womit wir wieder bei Stirner wären.

Die Verknappungssysteme

Nachdem Foucault auf die Auschließungssysteme (Verbot, Unterscheidung von Wahnsinn und Ver­nunft, Wille zur Wahrheit) eingegangen ist, kommt beim Übergang zu den Verknappungssystemen (Kommentar, Autor, Disziplin) das folgende Zitat.

Es gibt offensichtlich viele andere Prozeduren der Kontrolle und Einschränkung des Diskurses. Diejenigen, von denen ich bis jetzt gesprochen habe, wirken gewissermaßen von außen; sie funktionieren als Auschließungssysteme; sie betreffen den Diskurs in sei­nem Zusammenspiel mit der Macht und dem Begehren. Ich glaube, man kann noch eine andere Gruppe ausmachen. Interne Prozeduren, mit denen die Diskurse ihre eigene Kontrolle selbst ausüben; Prozeduren, die als Klassifikations-, Anordnungs-, Vertei­lungsprinzipien wirken. Diesmal geht es darum, eine andere Dimension des Diskurses zu bändigen: die des Ereignisses und des Zufalls.13

Behauptet Foucault im ersten Abschnitt den Diskurs als Objekt äußerlicher Kräfte, so bestimmt er ihn ab hier als Subjekt, das sich selbst reguliert. Man kann selbstverständlich in Bezug auf die Ob­jekte gesellschaftlicher Praxis feststellen, dass sie selbst Subjekte sind, so etwa das Kapital oder die Öffentlichkeit, aber Foucault streicht jede Vermittlung durch gesellschaftliche Praxis, also kollektive Praxis von Individuen durch, und so gerät ihm der Diskurs zu einem mystischen Subjekt getrennt von den Individuen, die ihn interessiert herstellen.

Das erste Verknappungssystem, das Foucault anführt, ist der Kommentar (S. 18-20). Damit fasst er jede Form inhaltlicher Bezugnahme einer Aussage auf eine vorangegangene Aussage. So sind zum Beispiel Übersetzungen der Odyssee, Texterklärungen und Joyce’ Ulysses allesamt Kommentare von Homers Odyssee. Man möchte meinen, so weit, so banal. Aber selbstverständlich schafft Fou­cault auch aus dieser Banalität wieder eine bedeutungsschwangere Verrrätselung zu konstruieren. So schreibt Foucault:

Für den Augenblick möchte ich nur darauf hinweisen, dass im Kommentar die Abstu­fung von Primärtext und Sekundärtext zwei einander ergänzende Rollen spielt. Einer­seits ermöglicht es (und zwar endlos), neue Diskurse zu konstruieren: der Überhang des Primärtextes, seine Fortdauer, sein Status als immer wieder aktualisierbarer Diskurs, der vielfältige oder verborgene Sinn, als dessen Inhaber er gilt, die Verschwiegenheit und der Reichtum, die man ihm wesenhaft zuspricht – all das begründet eine offene Mög­lichkeit zu sprechen. Aber andererseits hat der Kommentar, welche Methoden er auch anwenden mag, nur die Aufgabe, das schließlich zu sagen, was dort schon verschwiegen artikuliert war. Er muß (einem Paradox gehorchend, das er immer verschiebt, aber dem er niemals entrinnt) zum ersten Mal das sagen, was doch schon gesagt worden ist, und muß unablässig das wiederholen, was eigentlich niemals gesagt worden ist. Das unend­liche Gewimmel der Kommentare ist vom Traum einer maskierten Wiederholung durch­drungen: an seinem Horizont steht vielleicht nur das, was an seinem Ausgangspunkt stand – das bloße Rezitieren. Der Kommentar bannt den Zufall des Diskurses, indem er ihm gewisse Zugeständnisse macht: er erlaubt zwar, etwas anderes als den Text selbst zu sagen, aber unter der Voraussetzung, dass der Text selbst gesagt und in gewisser Weise vollendet werde. Die offene Vielfalt und das Wagnis des Zufalls werden durch das Prin­zip des Kommentars von dem, was gesagt zu werden droht, auf die Zahl, die Form, die Maske, die Umstände der Wiederholung übertragen. Das Neue ist nicht in dem, was ge­sagt wird, sondern im Ereignis seiner Wiederkehr.“14

Der objektive Gehalt dieser Verrätselung, also das Moment der Realität, das in dieser falschen Theo­rie auftaucht, zuerst. Wenn ein Text der Sekundärtext zu einem anderen Text, dieser also sein Primärtext ist, dann muss es eine inhaltliche Identität zwischen diesen beiden Texten geben. In ge­wisser Weise muss der Inhalt des Primärtextes im Sekundärtext aufgehoben sein. Obgleich der Se­kundärtext ein anderer Text als der Primärtext ist, muss in ihm ein inhaltlicher Bezug auf den Pri­märtext vorkommen, ansonsten wäre er kein Sekundärtext zu ihm. Es ist relativ kompliziert diesen Zusammenhang auszudrücken, ohne tautologisch zu sabbeln, weil es so banal ist. Wenn ich eine Re­zension zu einem Buch schreibe, dann muss ich auch über das Buch, und das, was darin steht, schreiben, ansonsten ist es halt keine Rezension zu dem Buch. Wenn ich eine Interpretation zu ei­nem Gedicht schreibe, dann muss ich auch über das Gedicht, und das, was darin steht, schreiben, ansonsten ist es halt keine Interpretation zu dem Gedicht. Wenn ich eine Kritik an einem Text schreibe, dann muss ich auch über den Text, und das, was darin steht, schreiben, ansonsten ist es halt keine Kritik an dem Text. Gleichzeitig muss natürlich eine Nicht-Identität bestehen. Wenn man einen Text schlicht abschreibt, dann schreibt man keinen Kommentar, sondern wiederholt ihn bloß. So weit, so richtig.

Jedoch selbst dieser objektive Gehalt taucht hier bloß in verrätselter Form auf. Da muss dann gesagt werden, was schon verschwiegen artikuliert war, und zum ersten Mal gesagt werden, was schon ge­sagt worden ist, und wiederholt werden, was eigentlich noch niemals gesagt worden ist. Das ist das Ergebnis davon, wenn einer Banalitäten bedeutungsschwanger aufladen will.

Um die Banalität, dass Aussagen oder Texte inhaltliche Bezüge zu vorangegangenen Aussagen oder Texten herstellen, geht es Foucault auch gar nicht. Er baut daraus seinen Begriff des Kommentars, um diesen als Verknappungssystem des Diskurses, der als „unberechenbar Ereignishaftes“ definiert worden ist, auftreten zu lassen. Die Fiktion einer offenen Vielfalt und eines Wagnis des Zufalls muss gebändigt werden. Hier wird deutlich, welch absurde Sprachtheorie dem zu Grunde liegen muss. So als hätte Sprache und Sprechen keinen Zweck, wird so getan als würden ohne die Ver­knappung durch den Kommentar lauter zufällige Aussagen sich einfach ereignen. Wenn einer eine Kritik an einem Text schreibt, dann tut er das, weil er den Text falsch findet, und meint, das sollte ir­gendeine Form von Publikum wissen. Dann tut er das deshalb.

Aus den Ausführungen zum Autor, die sich daran anschließen, zitieren wir nur den letzten Absatz:

Um den Zufall des Diskurses in Grenzen zu halten, setzt der Kommentar das Spiel der Identität in der Form der Wiederholung und des Selben ein. Das Spiel der Identität, mit dem das Prinzip des Autors denselben Zufall einschränkt, hat die Form der Individuali­tät und des Ich.15

Es ist einfach nochmal der gleiche Fehler in Grün.

Auf den folgenden Seiten wiederholt Foucault Varianten dieses Fehlers noch an anderen sogenann­ten Verknappungssystemen. Man könnte jetzt jedes Mal den objektiven Gehalt dessen, was er sagt herausschälen, und eine immanente Kritik an dem falschen Gedanken, den er aus diesem objektiven Gehalt bastelt, durchführen, aber dabei kommt nicht viel mehr bei herum als wir bereits erarbeitet haben, und wir trauen dem Publikum zu, dass, wenn Interesse daran besteht, ggf. selbst zu tun.

Ab Seite dreißig folgt dann eine kurze Geschichte der Philosophie, die so kryptisch ist, dass der Aufwand, sie zu entziffern, vor dem Vorhaben sie zu kritisieren abschreckt. Vermutlich spricht er über den Rationalismus nach Descartes, den Empirismus, und zuletzt über Hegels objektiven, dia­lektischen Idealismus. Wenn wir die knappen Ausführungen zu Hegel richtig verstehen, dann kriti­siert er Hegels Gedanken, dass die Idee (Gott) sich in der Schöpfung der Welt entäußert, und im Be­wusstsein des Menschen bzw. dessen Erkenntnis der Welt (als Entäußerung der Idee) zu sich selbst kommt. Das weist Foucault zurück, weil der Diskurs dann nicht mehr isoliert von der Welt sei, son­dern sich Diskurs „zu allem sagen lasse“. Wenn wir das richtig verstehen, macht Foucault hier He­gels Dialektik den Vorwurf der metaphysischen Hyperdialektik, den wir weiter oben Foucault ge­macht haben. Der Vorwurf hat aber gegenüber Hegel keine Berechtigung, denn Hegel erkennt sehr wohl das Einzelne und Besondere an, leugnet es nicht, sondern erklärt sich durch die Vermittlung ihre Verhältnisse zueinander und ihr Verwandeln ineinander. Wenn Foucault gegen Hegels Dialektik anführt, dass sie mit der Vermittlung das Einzelne auslösche, dann offenbart er damit nicht Hegels Metaphysik, sondern seine eigene. Foucault kann Vermittlung nicht anders denken als unterschieds­loses Ineinssetzen des Verschiedenen, weil seine Theorie der negativen Beschreibung des Möglich­keitsraums von sprachlichen Erscheinungen kein dialektisches Verhältnis von Sein und Bewusstsein zulässt; weil Foucault selbst Metaphysiker ist. Zumindest, wenn wir den Abschnitt richtig verstan­den haben.

Danach folgt dieses Zitat, dass als Motiv der modernen Philosophie die Angst vor dem Diskurs er­findet:

Welche Zivilisation hat denn, allem Anschein nach, mehr als die unsrige Respekt vor dem Diskurs gehabt? Wo hat man ihn besser geehrt und hochgehalten? Wo hat man ihn denn radikaler von seinen Einschränkungen befreit und ihn verallgemeinert? Nun, mir scheint, daß sich unter dieser offensichtlichen Verehrung des Diskurses, unter dieser of­fenkundigen Logophilie, eine Angst verbirgt. Es hat den Anschein, daß die Verbote, Schranken, Schwellen und Grenzen die Aufgabe haben, das große Wuchern des Diskur­ses zumindest teilweise zu bändigen, seinen Reichtum seiner größten Gefahren zu ent­kleiden und seine Unordnung so zu organisieren, daß das Unkontrollierbare vermieden wird; es sieht so aus, als hätte man auch noch die Spuren seines Einbruchs in das Den­ken und in die Sprache verwischen wollen. Es herrscht zweifellos in unserer Gesell­schaft – und wahrscheinlich auch in allen anderen, wenn auch dort anders profiliert und skandiert – eine tiefe Logophobie, eine stumme Angst vor jenen Ereignissen, vor jener Masse von gesagten Dingen, vor dem Auftauchen all jener Aussagen, vor allem, was es da Gewalttätiges, Plötzliches, Kämpferisches Ordnungsloses und Gefährliches gibt, vor jenem großen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses.16

Wenn der Diskurs erstmal als „unberechenbar Ereignishaftes“ gesetzt ist, dann kann man auch be­haupten, dass es eine verborgene Angst vor seinem „ordnungslosen Rauschen“ gebe. Dies „ord­nungslose Rauschen“ ist dann das Jenseits der Auschließungs- und Verknappungssysteme, das ganz viel „Gewalttätiges, Plötzliches, Kämpferisches, Ordnungsloses und Gefährliches“ an sich habe. Die Fiktion des Zufalls, des unberechenbar Ereignishaften dient dazu, nicht die Angst davor zu er­schließen, aber doch zumindest plausibel erscheinen zu lassen. Wer glaubt, hier etwas Rebellisches zu lesen, wird wenig später eines Besseren belehrt.

Die Methodik

Nachdem mit dem bisherigen Text Foucault die Themen seiner Forschungsvorhaben umrissen hat, geht er auf die gewählte Methodik ein und nennt das „Prinzip der Umkehrung“, das sich in den „Prinzi­pien“ der „Diskontinuität“, der „Spezifizität“ und der „Äußerlichkeit“ konkretisiert.

Zunächst ein Prinzip der Umkehrung. Wo uns die Tradition die Quelle der Diskurse, das Prinzip ihres Überflusses und ihrer Kontinuität sehen lässt, nämlich in den anscheinend so positiven Figuren des Autors, der Disziplin, des Willens zur Wahrheit, muss man eher das negative Spiel einer Beschneidung und Verknappung des Diskurses sehen.17

Hier äußert sich das zu seinem Diskursbegriff passende metaphysische Verständnis von Theoriege­schichte. Mit dem Prinzip der Umkehrung setzt er seine eigene Theorie als absolutes Gegenteil der Tradition. Während Marx und Engels Hegel vom Kopf auf die Füße stellten, behauptet Foucault, er habe den Kopfstand erfunden. Marx und Engels kritisieren die Hegelei in ihren Schriften, und erklä­ren, inwiefern ihre Theorie eine Korrektur ist. Somit erkennen sie den relativen Wahrheitsgehalt an, und entwickeln ihn weiter. Wohingegen Foucault seine Theorie als absolutes Gegenteil der Traditi­on setzt, und damit die schlechte Marotte der Methodenmode im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb auf die Spitze treibt. Er ist methodisch so innovativ, dass er das glatte Gegenteil alles bisherigen treibt. Während das maßlos arrogant ist, ist es gleichzeitig so wenig Punkrock, dass es natürlich wieder in sich selbst relativierender Form daher kommt. Er, der alles anders macht, der so individu­ell und innovativ ist, dass ihm kein Vorgänger ähnelt (außer vielleicht Nietzsche, der möglicherwei­se ähnlich genial war, und angeblich die Frankfurter Schule), sagt über das, was so phänomenal neu ist, dass man es „eher machen müsse“. Saft- und kraftlos.

Ein Prinzip der Diskontinuität. Dass es Verknappungssysteme gibt, bedeutet nicht, dass unterhalb oder jenseits ihrer ein großer, unbegrenzter, kontinuierlicher und schweigsa­mer Diskurs herrscht, der von diesen Verknappungssystemen unterdrückt oder verdrängt wird und den wir wieder emporheben müssen, indem wir ihm endlich das Wort erteilen. Es geht nicht darum, ein Nicht-Gesagtes oder ein Nicht-Gedachtes endlich zu artikulie­ren oder zu denken, indem man die Welt durchläuft und an alle ihre Formen und all ihre Ereignisse anknüpft. Die Diskurse müssen als diskontinuierliche Praktiken behandelt werden, die sich überschneiden und manchmal berühren, die einander aber auch igno­rieren oder ausschließen.18

Foucault scheint selbst aufzufallen, dass man anhand der Zitate von den Seiten zehn und 33 darauf kommen könnte, er wolle das Rauschen des Diskurses befreien. Will er gar nicht. Alles, was an vor­herigen Stellen vielleicht so klang, also wolle hier einer gegen Verbote und Einschränkungen rebel­lieren, wird einkassiert. Rebellion ist seine Sache nicht. Gut, dass das klargestellt wird. Das sollten seine vom Marxismus inspirierten Leser ernst nehmen. Er will mit Rebellion nichts zu schaffen ha­ben!

Darüber hinaus ist an diesem Zitat bemerkenswert, dass er das Verhältnis von Sein und Bewusstsein als eines der Anknüpfung bestimmt. Das ist zwar reichlich dünn, aber immerhin taucht das Verhält­nis an dieser Stelle überhaupt mal auf. Er biegt dann aber gleich wieder ab, und stellt fest, dass es sich bei der Diskontinuität um ein der Sphäre des Bewusstseins, um in unseren Begriffen zu blei­ben, immanentes Verhältnis handelt, nämlich eines zwischen Diskursen, die absolut sind vom Sein.

Hilfreich ist es vielleicht zwei Zitate aus Michael Masets Eintrag Diskontinuität/Zerstreuung im Handbuch Foucault hinzuzuziehen:

Die Bestimmung der Einheit eines Diskurses, der Gesamtheit einer Menge von Aussa­gen in ihrer Individualität besteht aber nicht in der Beschreibung ihrer dauerhaften Merkmale, im Fixieren ihrer Individualität, sondern in der Formulierung ihres Vertei­lungs- bzw. Streuungsgesetzes. Eine Formationsregel ist das Prinzip der Vielfältigkeit und Streuung der Gegenstände, Begriffe, Operationen und theoretischen Optionen eines Diskurses – diese gilt es aufzuspüren.19

Was die Zerstreuung auf der synchronen Ebene/der Ebene der Formation von Diskursen darstellt, ist die Diskontinuität gewissermaßen auf diachroner Ebene/der Ebene der Transformation von Diskursen. Wenn eine diskursive Formation an die Stelle einer an­deren tritt, heißt das, dass sich eine allgemeine Transformation der Beziehungen vollzo­gen hat, die Aussagen gehorchen neuen Formationsregeln. Ein Bruch ist somit eine durch eine bestimmte Anzahl abgegrenzter Transformationen spezifizierte Diskontinui­tät zwischen abgegrenzten Diskurszuständen.20

Der Unterschied zwischen „Zerstreuung“ und „Diskontinuität“, den Maset hier beschreibt, taucht in dem Zitat von Foucault oben nicht auf. Das ist aber nicht weiter schlimm, da uns gerade das gemeinsame von Zerstreuung und Diskontinuität interessiert, und was das über den Diskursbegriff aussagt. Man kann Foucaults Diskursbegriff mit einer mathematischen Funktion vergleichen, die beschreibt, nach welcher Regelmäßigkeit Punkte auftreten. Und dann gibt es lauter Graphen, die einander über­schneiden, berühren oder eben nicht. Das Problem ist nur, dass wenn ich eine Linie auf ein Blatt Pa­pier zeichne, man sie zwar in einer Funktion beschreiben kann, das aber noch lange nicht der Grund für die Linie ist. Die negative Beschreibung des Möglichkeitsraums von Erscheinungen erklärt gar nichts und diese negativen Beschreibungen in ein „diskontinuierliches“ Verhältnis zueinander zu setzen, erklärt genauso wenig. Mittels Diskursbegriff lässt sich die bürgerliche Öffentlichkeit nicht mehr als widersprüchliches Ganzes begreifen, stattdessen werden einander widersprechende Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit zu diskontinuierlichen Diskursen. Das ist ein metaphysisches Ver­ständnis von Öffentlichkeit, das mit ihr analytisch nichts tut, außer sie in negativ beschriebene Mög­lichkeitsräume zu zergliedern, die relativ isoliert voneinander nämlich „diskontinuierlich“ sind. Die flapsige Zusammenfassung des Kapitels zur Wirklichkeit aus Hegels Enzyklopädie reicht schon fast als Zurückweisung Foucaults: Was wirklich ist, ist allemal auch möglich. Also muss man sich über die Möglichkeit der Wirklichkeit auch keinen Kopf zerbrechen.

Um zu verstehen, warum Foucault mit dem Begriff der Diskontinuität in Mode kommen konnte, muss man sich klarmachen, was zuvor die Mode war. Strukturalisten wie Braudel, die Geschichte als „lange Dauer“ begreifen, verbreiten ein metaphysisches Geschichtsbild, das auf das Moment der Kontinuität abstellt. Alles ist akzidentiell, nur die gleichbleibende Struktur ist wesentlich. In der fal­schen Theorie Foucaults erscheinen wenigstens die objektiven Momente der inneren Widersprüch­lichkeit der Dinge. Der besondere Widerspruch von Qualität und Quantität, und vor allem sein Mo­ment des Sprungs von quantitativer Veränderung zu qualitativer Veränderung, erscheint in Foucaults falscher Theorie, während der Strukturalismus21 diesen Widerspruch quasi leugnet. Diese objektiven Momente werden von Foucault zwar falsch als Diskontinuität gefasst, aber es wird immerhin über­haupt geistig mit ihnen umgegangen. Das macht den Reiz von Foucault aus für ein Publikum, das die Mängel des Strukturalismus zumindest ahnt und darüber hinaus will.

Ein Prinzip der Spezifizität. Der Diskurs ist nicht in ein Spiel von vorgängigen Bedeu­tungen aufzulösen. Wir müssen uns nicht einbilden, dass uns die Welt ein lesbares Ge­sicht zuwendet, welches wir nur zu entziffern haben. Die Welt ist kein Komplize unserer Erkenntnis. Es gibt keine prädiskursive Vorsehung, welche uns die Welt geneigt macht. Man muss den Diskurs als eine Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun; jedenfalls als eine Praxis, die wir ihnen aufzwingen. In dieser Praxis finden die Ereignisse des Diskurses das Prinzip ihrer Regelhaftigkeit.22

Hier passieren verschiedene Dinge. Spezifizität soll ein Prinzip sein. Der erste Satz, der das näher erläutern soll, behauptet, man solle den Diskurs nicht in vorgängigen Bedeutungen auflösen. Das heißt wohl, dass der Diskurs nicht restlos identisch mit Bedeutungen, die schon vor und außerhalb von ihm existieren, ist bzw. vom Interpreten nicht restlos identisch mit diesen Bedeutungen gesetzt werden soll. Vielleicht soll das ein Einwand gegen einen platten Platonismus sein, vielleicht soll sich das gegen strukturalistische Sprachwissenschaft wenden. Wir haben es auch nicht in der zu Rate gezogenen Sekundärliteratur erfahren. Aber es soll vermutlich ins gleiche Horn blasen, wie all die anderen Stellen, die sich gegen das Allgemeine richten.

Das lyrische Geschwätz über die Welt, die kein Komplize der Erkenntnis sei, den Mangel einer prä­diskursiven Vorsehung, die uns die Welt geneigt mache, ist eine Polemik gegen den objektiven, dia­lektischen Idealismus Hegels, der stellvertretend für alle Theorien angegriffen wird, die sagen, dass man die Welt erkennen könne. Er sucht sich Hegel als Gegner, weil er sich an Marx nicht ran traut.

Mit der Bestimmung des Diskurses als Gewalt, die wir den Dingen antun, liegt hier eine der weni­gen Stellen vor, bei der ein Subjekt vorkommt, nämlich wir, und das Verhältnis von Diskurs und ob­jektiver Welt Erwähnung findet. Auch wenn der Inhalt dünn ist, lässt sich hier doch wenigstens ein bisschen herausfinden. Nachdem er sich polemisch gegen eine Sorte Idealismus wendet, die die Er­kennbarkeit der Welt behauptet, sagt er, dass der Diskurs Gewalt an den objektiven Dingen sei. Ein paar Zeilen zuvor wurde das Gesagte als Anknüpfung an die Welt bestimmt. Jetzt ist der Diskurs Gewalt an den Dingen. Anscheinend taucht die Welt irgendwie im Diskurs auf, aber nur als ver­formtes. Dadurch wird der Diskurs das Hauptsächliche, und die Erkennbarkeit der Welt wird ge­leugnet. Dazu passend schlägt er im letzten Satz dann vor, sich bloß mit der Regelhaftigkeit eben dieser Diskurse zu befassen.

Die vierte Regel ist die der Äußerlichkeit. Man muss nicht vom Diskurs in seinen inne­ren und verborgenen Kern eindringen, in die Mitte eines Denkens oder einer Bedeutung, die sich in ihm manifestieren. Sondern vom Diskurs aus, von seiner Erscheinung und seiner Regelhaftigkeit aus, muss man auf seine äußeren Möglichkeitsbedingungen zuge­hen; auf das, was der Zufallsreihe dieser Ereignisse Raum gibt und ihre Grenzen fi­xiert.23

Er will nicht verstehen, er will nicht erklären. Er will bloß die den Erscheinungen ä u ß e r l i c h e n Grenzen ihres Möglichkeitsraums negativ beschreiben. Im Grunde ist hiermit erreicht, was wir schon eingangs angekündigt hatten. Er lehnt die Erklärung der Erscheinungen der Welt, mit denen er sich beschäftigt ab. Er setzt sie als Zufälle, um dann festzuhalten, in welchem Raum sich diese Zufälle ereignen können. Es handelt sich bei diesem Zitat um das wichtigste Zitat aus dem gesam­ten Text, weil hier der ganze Fehler Foucaults in der deutlichsten Form zu Tage tritt, und er am we­nigsten herumlaviert.

Vier Begriffe müssen demnach der Analyse als regulative Prinzipien dienen: die Begrif­fe des Ereignisses, der Serie, der Regelhaftigkeit, der Möglichkeitsbedingung. Jeder die­ser Begriffe setzt sich jeweils einem anderen genau entgegen: das Ereignis der Schöp­fung, die Serie der Einheit, die Regelhaftigkeit der Ursprünglichkeit, die Möglichkeits­bedingung der Bedeutung. Diese vier anderen Begriffe (Bedeutung, Ursprünglichkeit, Einheit, Schöpfung) haben die traditionelle Geschichte der Ideen weitgehend be­herrscht, in der man übereinstimmend den Augenblick der Schöpfung, die Einheit eines Werks, einer Epoche oder eines Gedankens, das Siegel einer individuellen Originalität und den unendlichen Schatz verborgener Bedeutungen suchte.24

Wir wollen hier nur die Gegenüberstellung von Einheit und Serie herausgreifen. Das allgemeine Wesen der Erscheinungen soll gerade nicht mehr erklärt werden, das Einzelne nicht mehr auf seine Besonderheit und Allgemeinheit untersucht, und auf den Begriff gebracht werden. Stattdessen wer­den lauter Einzelheiten, die sich nach bestimmten Regelmäßigkeiten ereignen, als Serie begriffen.25

Dass die hier entfaltete Kritik ihren Gegenstand trifft, wird auch nochmal durch ein späteres Zitat bestätigt, worin Foucault schreibt:

Gewiss sucht die Historie seit langem nicht mehr, die Ereignisse in der formlosen Ein­heit eines großen – einigermaßen homogenen und starr hierarchisierten – Werdens, in der Relation von Ursache und Wirkung, zu verstehen; aber es geht auch nicht darum, Strukturen zu finden, die dem Ereignis vorausliegen, ihm fremd und feindlich sind. Es gilt, die verschiedenen, verschränkten, oft divergierenden, aber nicht autonomen Serien zu erstellen, die den »Ort« des Ereignisses, den Spielraum seiner Zufälligkeit, die Bedingungen seines Auftretens umschreiben lassen.26

Hier sagt er es zum wiederholten Male explizit, nicht erklären soll man die Geschichte, nicht Ursa­che und Wirkung (oder Grund und Folge) in ihr entdecken, sondern den Spielraum der Zufälligkeit des Ereignisses solle man umschreiben.

Im Anschluss an dieses Zitat ersetzt er die Kritik anderer Geschichtstheorien durch den Vorwurf, sie seien „gestrig“, was ihm möglich war, weil sein Denken in Mode gekommen ist. Eine Seite darauf gibt Foucault seine Definition der anscheinend letzten Kategorie, die nicht unzeitgemäß geworden ist, die Definition des Ereignisses:

Gewiss ist das Ereignis weder Substanz noch Akzidens, weder Qualität noch Prozess; das Ereignis gehört nicht zur Ordnung der Körper. Und dennoch ist es keineswegs im­materiell, da es immer auf der Ebene der Materialität wirksam ist, Effekt ist; es hat sei­nen Ort und besteht in der Beziehung, der Koexistenz, der Streuung, der Überschnei­dung, der Anhäufung, der Selektion materieller Elemente; es ist weder der Akt noch die Eigenschaft eines Körpers; es produziert sich als Effekt einer materiellen Streuung und in ihr. Sagen wir, dass sich die Philosophie des Ereignisses in der auf den ersten Blick paradoxen Richtung eines Materialismus des Unkörperlichen bewegen müsste.27

Foucault erzählt erstmal, was das Ereignis nicht sei. Es sei kein Körper, sagt er. Es sei aber auch nicht immateriell, sagt er. Vielmehr sei es auf der Ebene der Materialität wirksam, sagt er. Es sei ein Effekt. Es bestehe in den Verhältnissen materieller Elemente zueinander. Es sei weder Eigenschaft noch Akt eines Körpers, sagt er. Dann macht er etwas ganz Komisches. Er sagt, das Ereignis produ­ziere sich als Effekt einer materiellen Streuung und in ihr. Das ist einigermaßen verwirrend, weil man sich jetzt fragen darf, wer den nun das Subjekt der Produktion des Ereignisses ist? Die Streu­ung oder das Ereignis selbst? Aus all diesen verrätselnden Bestimmungen folgt dann der große ver­rätselnde Schluss, dass es sich bei der Philosophie des Ereignisses um einen Materialismus des Un­körperlichen handele. Das sei nur auf den ersten Blick paradox. Der Fehler Foucaults besteht darin, dass er das objektive und subjektive Moment des geschichtswissenschaftlichen Begriffs des Ereig­nisses miteinander vermengt, um dann ein großes Rätsel daraus zu machen, was denn das Ereignis sei. Mit dem kryptischen Stil seiner leeren Bestimmungen versucht er obendrein noch Eindruck zu schinden.

Das Online-Wörterbuch Wiktionary sagt, dass Ereignis vom Verb sich ereignen komme, und schlägt als Synonyme geschehen, vorfallen oder umgangssprachlich passieren vor. Man könnte nun statt Er­eignis auch Geschehen, Vorfall, Hergang, Vorgang, oder gar Prozess sagen. All diese Wörter be­zeichnen mehr oder weniger gleiche Dinge in der Welt. Etwas geschieht, heißt, dass ein oder mehre­re Dinge Wirkungen haben, und zwar in einem kürzeren oder längeren Zeitabschnitt. Das ist eine ziemlich materielle Angelegenheit. Das Immaterielle kommt dadurch herein, dass die Zusammen­fassung zu einem Ereignis, die Festsetzung zeitlicher Grenzen, die Entscheidung, was dazu gehört und was nicht, ein subjektiver Akt ist. Ein Interpret der Wirklichkeit sagt, die Kapitulation Deutsch­lands im Ersten Weltkrieg war ein Ereignis. Aber was gehört dazu? Die Entscheidung der Obersten Heeresleitung oder erst die Unterschrift der Republikaner in Versailles? Oder beides? Ist es dann noch ein Ereignis? Da muss man sich dann vielleicht über mehrere Seiten in einem geschichtswis­senschaftlichen Text zu äußern, um Missverständnisse zu vermeiden. Eine paradoxe Philosophie, ei­nen Materialismus des Unkörperlichen braucht es dazu nicht.

Es drängt sich der Verdacht auf, dass er mit der Verwendung des Begriffs des Ereignis die Debatte um die Erkennbarkeit der Erscheinung zu vermeiden versucht, um seine Feigheit vor dem offenen Kampf gegen den Materialismus als neue fancy Art des Denkens zu verkaufen.

Schluss

Foucaults Diskursbegriff taugt für das Vorhaben, die Welt zu begreifen nicht. Er erwähnt den Streit zwischen Idealismus und Materialismus bezüglich der Objektivität der Wahrheit nicht, aber seine ganze Theorie setzt im Grunde voraus, dass man die Welt nicht erkennen kann. Indem er ständig mit dem Materialismus kokettiert, aber dem Wesen nach eine idealistische Philosophie vertritt, will er suggerieren, den Widerspruch von Materialismus und Idealismus kritisch überwunden zu haben; wie so viele Idealisten zuvor.

Sein Begriff des Diskurses ist eine negative Beschreibung des Möglichkeitsraums von sprachlichen Erscheinungen und hat mit der Erklärung dessen, was die Erscheinung ist, nichts zu tun. Die sprach­liche Erscheinung wird von Foucault als Ereignis definiert, das zufällig sei. Weil es zufällig sei, könne man es nicht erklären, sondern nur den Möglichkeitsraum negativ beschreiben, indem man seine Grenzen definiert. Wenn man ein Ding erklären will, dann muss man es gründlich untersu­chen, die inneren Widersprüche, die seine Bewegung vorantreiben, aufdecken, untersuchen und analysieren, welche äußeren Widersprüche vermittelt durch die inneren Widersprüche wirken. Fou­cault will nichts erklären. Weil durch seine Erkenntnistheorie keine Erkenntnis zu Stande kommt, sondern das Nicht-Erkennen der Welt bloß einen modus operandi erhält, taugt sie auch nichts zur Veränderung der Welt. Foucault hat die Welt noch nicht mal interpretiert, er hat sie bloß negativ be­schrieben.

Das läuft auf eine zweifelnd wankelmütige, individualistische Haltung gegenüber der Welt hinaus. Denn auf der Grundlage der Nichterkennbarkeit der Welt ist es auch unmöglich, in ihr Gründe für einen proletarischen Klassenstandpunkt zu finden. Zur Tat schreiten lässt sich nur, wenn man weiß, warum, wozu und wie man handeln soll. Und andere für die eigene Sache gewinnen, kann man auch nur mit vernünftigen Antworten auf diese Fragen. Deshalb ist der Diskursbegriff Foucaults eine bürgerliche, reaktionäre Idee.

Der häufigste Einwand wird vermutlich sein, dass man den Text gar nicht für sich verstehen könne und dürfe, sondern das Denken Foucaults zwar kein System sei, aber doch irgendwie nichts isoliert betrachtet werden dürfe. Dieser Einwand ist hermeneutisch nicht völlig unberechtigt. Es kann schon sein, dass ein Text nur mit bestimmtem Hintergrundwissen verständlich ist, oder sich erst durch weitere Lektüre erschließt. Das wäre dann für eine Antrittsvorlesung, die die bisherige wissen­schaftliche Arbeit zusammenfassen und die zukünftige skizzieren soll, reichlich absurd. Wir haben uns dazu entschieden, die Propheten der Postmoderne darauf festzunageln, was sie geschrieben ha­ben, daran nachzuweisen, dass es falsch ist, und das interessierte Publikum zu bewaffnen, um den Postmodernismus zu widerlegen, und zumindest denjenigen Teil der Intelligenz für die Vernunft der Revolution zu gewinnen, der sich noch nicht vollständig von der Vernunft verabschiedet hat.

1 Wir liefern hier jetzt keine vollständige Ableitung der bürgerlichen Öffentlichkeit. Es ist eher eine Notiz.

3 Parr, Rolf: Diskurs., in: Kammler, Clemens (Hg.): Foucault Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2014. S. 233-237, hier S. 234.

4 Man erinnere sich an die auf einem Missverständnis beruhende Kritik der Redaktion Klassenstandpunkt.

5 Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt am Main 1991 (15. Aufl. 2019). S. 10f.

6Foucault: Diskurs, S. 11.

7 Ebd., S. 15.

8 Foucault: Diskurs. S. 15.

9 Wenn man nur diesen Text zu Rate zieht, ist das verwirrend. Mit dem obigen Zitat aus dem Handbuch wird es verständlicher.

10 Sellhoff, Michael: Die Ordnung des Diskurses., in: Kammler, Clemens (Hg.): Foucault Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2014. S. 62-68, hier S. 67.

11 Günzel, Stephan: Wahrheit., in: Kammler, Clemens (Hg.): Foucault Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2014. S. 296-301, hier S. 287 f.

12 Foucault: Diskurs. S. 24 f.

13 Foucault: Diskurs. S. 17.

14 Foucault: Diskurs. S. 19f.

15 Foucault: Diskurs. S. 22.

16 Foucault: Diskurs. S. 33.

17 Foucault: Diskurs. S. 34.

18 Foucault: Diskurs. S. 34.

19 Maset, Michael: Diskontinuität/Zerstreung., in: Clemens (Hg.): Foucault Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2014. S. 232 f., hier S. 233.

20 Ebd.

21 Im Grunde ist Braudel und der restliche Strukturalismus mit Hegels Ausführungen zur Quantität in der „Wissenschaft der Logik“ hinreichend kritisiert. Besonders die Ausführungen zur Allmählichkeit treffen die Strukturalisten.

22 Foucault: Diskurs. S. 34f.

23 Foucault: Diskurs. S. 35.

24 Ebd.

25 Man fühlt sich fast dazu verpflichtet die Kapitulanten und Revisionisten der Frankfurter Schule davor zu bewahren mit diesem Unfug in einen Topf geworfen zu werden. Die machen lauter Fehler, aber andere. Vgl. Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main 2008. S. 11.

26 Foucault: Diskurs. S. 36.

27 Ebd., S. 37.